Dienstag, 21. März 2017

Drei Sommer Lisa


„Gibt es denn keinen Abschiedskuss?", frage ich hoffnungsvoll.
„Küss mich doch da, wo die Sonne nie hinscheint!", wirft sie mir in ihrer selbstsicheren Art an den Kopf.
Das wirkt stark auf andere. Schon immer. Ich spüre aber, dass ihre Stimme leicht zittert. Als sie sich schnell umdreht, glaube ich kurz in ihren Augen etwas Gläsernes zu sehen. Als würde sie...weinen? Dann ist Lisa fort. Sie liebte schon immer blumige Aussprache. Sie war wie ein Dichter. Und ich weiß, was sie damit meinte: „Leck mich am Arsch!" Ich würde liebend gerne ihren wohlgeformten, sexy Knackarsch lecken, aber dennoch habe ich das Gefühl, dass sie das nicht wörtlich verstanden wissen möchte. Sie hat mich darin geprägt auf die feinen Nuancen ihrer Stimme zu achten. Nuance, auch eines ihrer akademischen Wörter. Sie hat mich ihre Sprache gelehrt. 3 Jahre lang.
Ich wusste es: Sie war eigentlich immer über mir. Nicht nur im Bett. Immer. Von Anfang an konnte ich ihr nie das Wasser reichen. Von Anfang an war sie für mich die geile, intelligente Studentin und ich der blöde, begriffsstutzige Hartzer.
Warum sie mit mir ausging, wusste ich nicht. Mit dem Psycho wollte eigentlich niemand ausgehen. So nannte man mich in der Schule. Psycho. Weil ich früher mal beim Psychologen war. 
Was ich weiß: Sie war meine Welt. Diese Welt hat sie mir erklärt. Nachdem ich sie langsam verstanden habe, hat sie mich abserviert. Ich wusste, dass das so kommt. Von Anfang an wusste ich es. Und so kam es ja auch. Sie war Über. Sie war zu intelligent für mich. Eine andere Galaxie. Sie war die helle Sonne und ich ein dunkler, scheiß unscheinbarer Mond, der willenlos um sie kreiste. Wir passten nicht zusammen, sagte man. Das sagte ihre Mutter. Es sagten auch ihre Freundinnen. Es sagten alle.
Ich fand, wir passten trotzdem gut zusammen. Sie hat oft über mich gelacht. Ich meine, nicht nur über meine Begriffsstutzigkeit und verpeilte Art, sondern weil ich sie wirklich zum Lachen bringen konnte. Glaube ich. Ich war lustig und meine (manchmal etwas schlüpfrigen) Witze kamen bei ihr an. Humor, das war mein Trumpf. So was in der Art sagte sie mir auch einmal. Einmal als sie nach der Erstsemester-Tequila-Party unglaublich voll war und ich sie nach Hause tragen musste. Voll war sie schon nach einem kleinen Bier und drei Tequila. Da ist ihre sonst so starke Stimme dann richtig sanft. Sie selbst wirkt verletzbar, nicht mehr so ernst und selbstsicher: „Weißt du. Du bringst mich als Einziger wirklich zum Lachen. Du schaffst es immer", nuschelte sie damals betrunken auf meinem Rücken. Ich umfasste ihre heißen Schenkel, die aus ihrem kurzen, schwarzen Rock ragten und war wie gelähmt. Ich spürte sie in dieser warmen Nacht im Juli zum ersten Mal richtig.
Nicht nur ihre zarten Beine, sondern sie selbst: diese intelligente Studentin mit dem lachenden Namen Lisa. Die Frau, die immer alles für mich sein wird. Nachdem sie das mit dem Lachen sagte, konnte ich nur weiterhin wie im Rausch geradeaus gehen. Mit ihr auf dem Rücken. Draußen war es warm, aber am ganzen Körper bekam ich Gänsehaut. Ich fühlte sie. Mit jeder Faser fühlte ich sie. Mir war es egal, dass sie danach auf meine neue Wildlederjacke kotzte. Als sie fertig gekotzt hatte, murmelte sie noch etwas Unverständliches. Unter den Brocken hörte ich „mein Sherpa″ und etwas mit „mich keiner wirklich mag″ und „schöne, einsame Welt″ heraus. Dann schlief sie ein. Wie ausgeknipst.
25 Minuten trug ich sie nach Hause. Es fuhr keine S-Bahn und auch kein Bus mehr. Mir tat alles weh. Aber das war mir egal. Ich hätte sie für immer getragen. Egal wohin. Ich trug sie dann zu ihrer Wohnung. Ich war glücklich. Auch als blöder Hartzer und komischer Psycho. Einfach nur glücklich. Ihre Wohnung war da wo wir bisher ab und zu gemeinsam mit ihren versnobten Studienkollegen oder allein Serien geschaut haben. Versnobt ist auch ein Wort von ihr gewesen. Das heißt so viel wie überheblich oder von sich überzeugt sein. Das war ich auch. Mit ihr an meiner Seite -oder eher auf dem Rücken- war ich überzeugt, alles zu schaffen.
An jeden Schritt, den ich sie trug und ihr leises gleichmäßiges Atmen in meinem Ohr hörte, erinnere ich mich. Ab dem Moment wurde für mich eines klar: Ich wollte sie immer zum Lachen bringen. Lisa sollte bei mir immer lachen können, wenn ihr danach ist.
Ich schaffte es irgendwie den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstür zu stecken, ohne sie zu wecken und absetzen zu müssen. Auch wenn ich mir dabei leicht den rechten Arm verdrehte, der vom Tragen ohnehin schon höllisch schmerzte. Aber ich wollte sie unbedingt nicht wecken. In ihrer Wohnung angekommen, schloss ich leise die Tür, trug sie durch ihr aufgeräumtes Zimmer und legte sie vorsichtig aufs Bett. Danach massierte ich lange meinen Arm. Der Schmerz tat gut. Der Schmerz machte es real. Er sagte mir, dass es gerade wirklich passierte. Ich stand eine Weile auf ihrem Zimmerteppich und traute mich nicht ihr die schmutzigen, verschwitzten Sachen auszuziehen. Ich hatte das mal in einem amerikanischen Film gesehen. Da zog ein Typ ein Mädchen aus, das ziemlich viel getrunken hatte. Dass ich es nicht tat, hatte nichts mit schüchternem Verhalten zu tun. Das macht man einfach nicht, wenn die Frau nicht ansprechbar ist! Deshalb nahm ich nur steif ihre Bettdecke und deckte sie kurzerhand zu. Ich stand auf und wartete einen Moment. Ich war unschlüssig, ob ich sie nun anschauen durfte oder nicht. Ohne ihr Wissen einfach anschauen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der sein Entdecken fürchtet. Nein, eher wie ein Spanner, der etwas Ungeheuerliches tut und verließ ihr Zimmer. Ich ging leise ins Bad und wusch gebeugt die fast eingetrockneten Kotzbrocken von meiner Lederjacke.
Früher oder später wird man angekotzt. Dann fühlt man sich selbst wie Kotze. Für mich war das nichts Neues.  Auf mich wurde immer schon gekotzt. Seit ich klein bin. Deshalb musste ich zweimal im Monat wohin. Zum Psychiater. Psycho war nicht ohne Grund mein Spitzname. Mein Vater kotzte auf mich und meine Mutter auch. In der Schule ging es weiter. Da kotzten meine Mitschüler auf mich. Einer nach dem anderen. Irgendwann fügt man sich dann darin und lebt den Kotzbrocken, weil einen alle zum Kotzen finden. Doch bei Lisa ist es anders. Lisa ist anders. Ich blickte auf.
Lisa ist anders.
Meine Jacke war nun sauber. Ich drehte den Wasserhahn mit einem leisen Quietschen zu und streifte langsam das warme Leder über meine Schulter. Ganz vorsichtig. Mein rechter Arm schmerzte noch immer etwas. Ein tolles Gefühl. Denn Schmerz ist Realität.
Schmerz macht alles ganz und gar real.
Ich war im Begriff zu gehen und gedachte Lisa schlafen zu lassen. Als ich leise das Bad verlassen hatte, ging ich auf Zehenspitzen zur Wohnungstür.
Zu der Tür, die mich in die Realität zurückbringen wird. Nein. Sie wird mich wieder in meine altbekannte Welt kotzen. Eine Welt ohne Lisa. Ich werde beim nächsten Mal besser auf sie Acht geben, gestand ich mir. Sie darf nicht mehr so viel trinken.
Ich starrte eine Weile an Lisas Wohnungstür, die mit Urlaubsbildern beklebt war und überlegte. Auf allen Bildern lächelte sie. Ein glückliches Lächeln.
Ich überlegte lange und wurde mir einer Sache ganz deutlich bewusst. Wie ein Funke Licht in einem Meer von Dunkelheit. Immer heller und heller leuchtete er auf. Besser auf sie Acht geben. Besser auf sie achten. Ja, das werde ich. Mir wurde schmerzlich bewusst, was das heißt.
Es wird nämlich kein nächstes Mal geben. Das war das letzte Mal. Jetzt ist das letzte Mal. Ich habe es dazu kommen lassen, dass sie zu viel trinkt. Das war nur der Anfang. Zu was bin ich noch im Stande? Ich bin nicht normal. Ich bin ein Psycho! Schon immer gewesen. Schizoid. Schizoide Persönlichkeitsstörung. Das sagte selbst mein Psychiater. Ich kann es nicht riskieren sie zu verletzen! Ich will es nicht. Ich bin nicht der Richtige für sie. Nicht gut genug für sie. Das weiß ich. Ich wusste es eigentlich schon immer. Ein anderer wird auf sie aufpassen müssen. Besser als ich es je kann. Sie wird mich vergessen. Das ist besser für sie.  
Ein letztes Mal betrachtete ich die Fotos an der Wohnungstür. Die Fotos mit ihrem Lächeln darauf. Ich wollte ihr Lächeln so lange anschauen, bis ich es nicht mehr vergessen könnte. Sie wird wieder auf einem anderen Foto lächeln. Glücklicher. Mit jemand anderem, der neben ihr lächelt. Glücklich.
Eine Hand an der Messingklinke schaute ich ein letztes Mal zu Lisa ins Zimmer. Einmal will ich sie doch anschauen. Ein letztes Mal. Ob Spanner oder nicht. Ein letztes Mal will ich sie anschauen! Wenigstens ein Mal. Meine Lisa.
Ich spähte angestrengt in ihr Zimmer hinein und suchte Lisas Umrisse. Durch die Dunkelheit erkannte ich es nicht gleich: Ihr Bett war...leer!
Das kann nicht sein! Kalter Schweiß brach mir aus. Ich nahm die Hand vom kühlen Messing der Türklinke und trat verwundert in ihr Zimmer. Mit leicht zusammengekniffenen Augen näherte ich mich Lisas Bett bis ich ganz nah davor stand. Es war leer! Komplett leer. Keine Lisa. Wie kann das sein? Ich habe sie doch eigens ins Bett gelegt und zugedeckt! Oder nicht? Habe ich alles etwa geträumt? Habe ich...habe ich etwa..? Ich griff zweifelnd an meinen Kopf und schloss meine Augen. Nur dreimal tief Ein- und Ausatmen.
Unweigerlich taucht ein hoher, weißer Raum auf. Er beißt sich fürchterlich mit seinem dunklen Parkettboden. In einer Ecke steht eine mickrige Nipapalme. An der rechten Wand hängt ein schlecht gemaltes Panorama, das eine im See spiegelnde Berglandschaft zur Winterszeit zeigt. Etwas mit der Perspektive stimmt da nicht. Mit dem Licht des einzigen Fensters im Raum hätte das Gemälde sicher ganz gut ausgesehen. Es hätte dem Ort mehr Freundlichkeit gegeben. Aber dem war nicht so. Alles im Raum wirkt unpassend. Als stimme etwas nicht. Als müsse man alle darin befindlichen Objekte komplett neu arrangieren, um das volle Potential zur Geltung bringen zu lassen. So liegt das einzige Fenster verschlossen hinter schweren Gardinen, die muffig und nach Zigarrenrauch riechen. Licht gibt nur eine grelle Stehlampe, die sich in der Mitte des verlorenen Raumes befindet. Neben einem kleinen, runden Holztisch mit einer hübschen, zitronengelben Orchidee darauf, die in einer fragil wirkenden Porzellanvase steckt. Herum sind ein simpler, schwarz-lederner Sessel und ein farblich passendes Kanapee organisiert. Der Sessel auf der einen Seite des Tisches, das Kanapee auf der anderen.
Wie oft lag ich auf diesem harten Stück 21. Jahrhundert? 20, 30, 40 Mal? Reicht das? Wie oft? Die genaue Anzahl der Besuche bekomme ich nicht mehr zusammen.
Der Psychiater war mein bester Freund als damals alle auf mich kotzten. Seine runden Brillengläser waren wie zwei Kloschüsseln, welche die ganze Kotze aufnahmen. Seine wulstigen Augenbrauen waren wie zwei Spülschalter. Unablässig gingen sie hoch und runter. Mein Psychiater war wirklich okay. Auch wenn er selbst ein nerviger Besserwisser und schleimiger Aufreißer war. Also privat, außerhalb der Sprechstunde. Innerhalb der Sprechstunde konnte ich bestimmen, da nahm er sich zurück. Auch wenn es sich verdammt hart auf dem schwarzen Kanapee lag. Trotzdem war alles gut. Auch wenn ich dann für viele meiner Mitschüler nur noch Psycho hieß. Das wäre okay gewesen, aber für viele war ich es dann auch. Ein Psycho. Sie kriegten es irgendwie heraus, dass ich dahin ging. Von da an war es dann auch egal, dass ich regelmäßig dahin ging. Trotzdem hatte ich immer etwas, was sie nicht hatten: ich wusste, dass ich kein wirklicher Psycho war.
Es war alles gut. Trotz der immer gleichlautenden Diagnose: Schizoide Persönlichkeitsstörung. Was heißt das schon? Hier auf dem harten Kanapee fühlte ich mich wohl. Gebraucht und verstanden. Und es kostete nichts. Manchmal spielten wir sogar Schach. Mr. Augenbraue und ich. Oft konnte man auch einfach schlafen und musste nichts sagen. Hier in der Sprechstunde kotzte keiner auf mich. Hier war ich mal ich selbst. Es war fast mein wirkliches Zuhause...
Ich riss mich zurück ins Jetzt und öffnete meine Augen. Es war düster. Fast wie in der Praxis bei meinem Psychologen. Gleich werden zwei runde Brillengläser erscheinen, die mich prüfend anschauen.
Ich schüttelte das längst vergangene Bild aus meinen Gedanken.
Ich erkannte ein Bett. Das Bett, wo Lisa hätte liegen müssen. Es war leer. Ich hatte sie doch eigens ins Bett gelegt! Ich könnte schwören. Nein, da war ich mir sicher! Sehr sogar.
Um dem erneut aufkommenden Schock Einhalt zu gebieten, griff ich nach der Decke. Sie war noch warm. Als hätte kürzlich jemand darin gelegen. Als ich mich schon umdrehen wollte, umschlossen mich plötzlich von hinten weiche Hände. Ganz sanft umarmten sie mich. Ich nahm wie im Trance die Hand von der warmen Bettdecke. Fast unhörbar glitt sie zu Boden. Der Boden, der kein dunkler Parkettboden war, sondern Teppich. Der Teppich in Lisas Zimmer. Ich drehte mich erleichtert um. Ich war mir sicher, dass sie da war.
Da war sie! Lisa!
Lisa, die mich immer noch umschlang. Ich drehte mich ganz zu ihr um. Sie ist es. Sie ist hier. Keine Einbildung! Lisa reckte ihren hübschen Kopf leicht nach oben und blickte mich an. Ich war wie gebannt. Lange blickte sie mich an. Ich versuchte jede ihrer Sommersprossen zu zählen, die wie ich wusste, auch in der Dunkelheit da sein mussten. Sie war sehr nah. Heiß spürte ich ihren Atem in meinem Gesicht. Dann konnte ich mich nicht mehr rühren. Ich konnte nichts mehr tun und an nichts denken als sie ihre feuchten Lippen auf die meinen presste. Immer wilder presste sie sich in meinen Mund hinein. Gierig schlürfte sie meine dunkle Seele aus mir, meine Kotzbrocken-Vergangenheit. Dann fraß sie mich vollends auf! Dann fraßen wir uns beide!
Nach dem geilen Sex auf ihrer weichen Wohnzimmer-Couch wurde Lisa dann meine geile, intelligente Studentin. Sie erklärte mir ihre Welt. Ihre Welt der akademischen Wörter. Ich habe sie langsam verstanden. 3 Sommer lang lachte Lisa durch mein begriffsstutziges Leben. Das Leben, das keinen Psychologen, sondern einen Dichter brauchte. Offiziell passten wir nun zueinander. Wir waren eins. Auch ihre Freundinnen fanden das. Ihre Eltern letztens Endes auch.
Das war bevor dem Fremdgehen. 
Das war bevor jemand fremdgegangen ist.
Dieser jemand muss echt ein Kotzbrocken sein.
Ich sehe sie gehen und in der Menge verschwinden.
Für immer.

„ICH bin dieser Kotzbrocken!"

Zwei runde Brillengläser schauen mich über einen Holztisch hinweg fragend an.
Eine Orchidee liegt zerdrückt auf dem Parkettboden, umringt von feinen Porzellanscherben. Ein Klecks Zitronengelb mit winzigen, weißen Strichen, die davon wegstreben. Alles in einem riesigen Meer von Dunkelheit. Eine verlöschende Sonne. Das perfekte Gemälde. Hart spüre ich noch den Druck des unnachgiebigen Leders unter mir, obwohl ich stehe. Mein Arm ausgestreckt, mein Mund geöffnet, die Augen starr. Fast manisch. Wie lange ich schon so verharre, weiß ich nicht. 
Es spielt auch keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr irgendeine Rolle. Ich fühle zum ersten Mal die gähnende Leere des Behandlungszimmers. Eine Leere, die mich erdrückt. Erdrückt wie noch nie.
Ich schaue Hilfe suchend zum Fenster. Ein Fenster, das durch dicke Gardinen verborgen bleibt. Nur eine Stehlampe leuchtet grell die Wahrheit aus. Eine Wahrheit, die allein mir gehört: 
Das ist mein Zuhause. 
Ich bin ein Psycho.

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