Keuchend fahre ich aus meinen Albträumen hoch. Schweißgebadet versuche ich mich zu
orientieren.
Wo bin ich? Es tickt. Ist das meine Uhr? Es tickt unregelmäßig. Es ist meine Uhr. Ich bin also zu Hause. Im Bett. Doch eigentlich bin
ich woanders. Ich denke nur an sie. Ständig muss ich das. „Du fehlst", flüstere ich ungewohnt ins Nirgendwo.
Verdammter Mist. Im Grunde halte ich von Schnulzen doch nichts.. Okay sie fehlt
mir. Das wollte ich mir doch nie eingestehen! Ich greife abwesend nach links. Meine
Hand umschließt...Leere.
Nur Leere.
Keine Nadine.
Meine Welt dreht sich gerade. Buchstäblich. Alles dreht sich und ich bin
die Rotationsachse. Verzweifelt erwischen meine zittrigen Finger ein flaches
etwas: mein Smartphone. Keine neue Nachricht von ihr. Seit 4 Monaten nicht. Ich
versuche mich abzulenken, was mir im Social-Network-Zeitalter spielend leicht
gelingen sollte. Den Rest macht der Alkohol. Ich höhle mich stetig aus damit. Das weiß ich. Aber das Drehen wird weniger.
Bald hört
es ganz auf. Das Gefühl kenne ich. Dann kann ich wieder ein bisschen Alltag
aushalten. Bis es von vorn beginnt.
Nadine.
Ich date, um sie zu vergessen. Was
nicht funktioniert. Auch das weiß ich. Ich muss damit aufhören. Aber ich kann nicht. Mir droht
schlecht zu werden und die pampige Currywurst von gestern hochzukommen. Ich
glaube dass es Currywurst war. Schließlich esse ich jeden zweiten Tag eine.
Also stehen die Chancen ganz gut. Ich versuche ruhig zu atmen, kralle die Hände in meine Bettdecke und schließe kurz die Augen. Ich schiele danach
mühsam
auf das, was ich als das Display meines Handys vermute. Ich versuche etwas zu
erkennen. Eine Freundschaftsanfrage von Cyntia. Oder sollte ich sie lieber Ich-räkel-meine-drallen-Silikon-Brüste-in-die-Kamera-am-monegassichen-Strand-und-habe-aufgehört-authentisch-zu-sein nennen?
Pff. Authentisch. Muss ich ja groß von tönen. Sofort taucht das Bild von Nadine
in meinem hämmernden
Kopf auf. Meiner Nadine. Und ich... Nein! DAS ist die Realität: Cyntia! Sie ist die Realität! Cyntia ist.. Wer ist das
eigentlich? Cyntia ist die Frau mit den drallen Silikon-Brüsten! Ich drücke nach kurzem Zwiegespräch, das mein Kopfschmerz klar für sich entscheidet, auf 'Anfrage annehmen'. Der Raum dreht sich
wieder. Karussell fahren mochte ich eigentlich schon immer. Schon seit
Kindertagen. Ich schließe kurz meine Augen. Schon besser. Es schwankt nur noch
ganz leicht. Ich stiere erneut auf das blaue Leuchten in meiner Hand. Schon
wieder ein vage bekannter Freundschaftsantrag von José Grégor Julio. So ein
Kussmund-Latino-Verschnitt. Wird wohl ein Fakeprofil sein. Oder ich...ich..
Ich greife mir an die taktvoll hämmernde Stirn. Fu**! Gestern! Gestern
war der Abend gewesen. Stimmt. Der
Abend. Da war ich doch in der Gay Bar. Wegen Bier. Wegen dem Bier. So heißt das richtig. Das Bier ist montags
immer so günstig
dort. Ich starre ungläubig auf das Profilbild von einem Typen, den ich schon mal
gesehen habe. In der Gay Bar. Gestern. Stimmt, es war gestern. Also doch kein
Fakeprofil. Ich atme meine Verwirrung heraus. Ein bisschen Selbstmitleid ist
auch dabei.
Verdammt! Ach ich hätte gestern einfach nicht etwas beschickert
durch ein unschlagbares Happy-Hour-Angebot wild Patrick-Swayze-Moves zum Besten geben sollen... Mein Kopf fühlt sich an wie mit der Streitaxt
gespalten. Ich setze angestrengt das Gestern-Nacht-Puzzle zusammen. Mir dämmert düster: Ich hielt diesen Joséscheißer wirklich für Enrique
Iglesias und dachte wir drehen gerade sein neues Musikvideo. Schön blöd. Es wird
dringend Zeit meine Eskapaden in Clubs und anrüchigen Bars zurückzufahren. Das Leben in den Griff zu
kriegen. So nennt man das. Aber was heißt das? Und wie geht das? Und warum überhaupt? Mir geht's doch prima!
Nadines Name flackert durch meine Nervenzellen und ich weiß, dass ich ein dreckiger Lügner bin. Ganz dreckig.
Mir ist schlecht. So schlecht, dass
ich unkontrolliert auf den grauen Sisalteppich neben dem Bett kotze. „War ohnehin von ihrer unausstehlichen
Tante″,
huste ich freudig hinterher.
Wir konnten sie beide nicht leiden.
Als ich röchelnd
aufblicke, schimmert das Neon-Licht einer Reklametafel an der Schlafzimmerwand.
Es tanzt umher wie wenn es nicht gefasst werden möchte. Ich drehe mich mühselig, keuchend zum Fenster. Es
regnet. Es regnet ständig. Es regnet seit sie fort ist.
An der neonlichtumfassten Promo-Wand
der Bushaltestelle vor meinem fleckigen Schlafzimmerfenster sehe ich ein
deutlich nachlässiges
Foto meiner selbst, das trotz des Loro
Piana Maßanzuges,
in dem ich stecke, die Glanzzeit längst hinter sich gelassen hat. Als wäre das nicht genug, wurde es mit
einer thronenden und schonungslosen Headline in Rot 'Abwrackprämie
gefällig?' geschmückt. Nett! Etwas geschmacklos zwar,
aber nett. Darunter ein Informationstext: 'Helfen
Sie diesem Arbeitslosen zurück
ins Leben! Geben Sie seiner Zukunft ein Gesicht.' Mhh ausgefallene Anspielung auf mein
Branchenimage.
Ehemaliges Branchenimage, korrigiere
ich mich. Bin ja arbeitslos. Kein namenhafter Designer mehr. Ich kotze nochmal.
Ganz ausgiebig. Diesmal auf die andere Seite des Bettes, auch wenn es da leider
keinen verhassten Teppich gibt, den ich wegschmeißen möchte. „War bestimmt das billige Freigetränk gestern", huste ich meine
Erkenntnis heraus. Nach Currywurst sieht es zumindest nicht aus, was auf den
Teppich suppt. Meine trüben Augen suchen danach erneut die Werbeanzeige und
versuchen sie zu fokussieren. Einfach eines der zwei Bilder auf das andere
legen. Ganz leicht.
Erneut sehe ich diesen
selbstverliebten Scheißkerl im teuren Anzug, der blöd grinst. Mir dämmert, dass ich diesen Scheißkerl irgendwoher kenne. Ich kenne ihn
wirklich irgendwoher. Der teure Anzug ist auf jeden Fall meiner. Darunter
blinkt eine Nummer: Eine Spendennummer.
Tolles Marketing, muss ich zugeben. Sie
flackert auf und verschwindet in der Dunkelheit.
Wie Nadine.
Jetzt dreht es sich wieder. Ich lasse
die Augen vorsichtshalber eine Zeit lang geschlossen. Dann schaue ich genau
hin: Die aufleuchtende Spendennummer treibt mir heiß die Tränen in die blutunterlaufenen Augen,
welche plötzlich
in Strömen
über
meine rissige Gesichtshaut laufen. Verdammt! Ich kenne diese Nummer. Diese Nummer kenne
ich gut.
Es ist meine alte Telefonnummer, besser
-unsere alte! Kann das sein?
„Es gibt auch Privatsphäre ihr Höllenhunde!", schreie ich
ungehalten. Niemand Spezielles im Raum fühlt sich angesprochen. Stimmt. Es ist
ja keiner da.
Es tickt. Ist ja unsere Wohnung. Es tickt unregelmäßig. Ist ja meine Wohnung. Bin ich echt so blau? „Das ist doch Terror! Das ist unsere
Festnetznummer!", brülle ich wutentbrannt. „Wenn hier einer anruft, dann zerleg
ich den...″
Plötzlich
bricht meine Stimme je ab. Da realisiere ich erst, dass ich auch kein Telefon
mehr habe. Sie hat es mitgenommen. Nein! Sie wollte das Telefon mitnehmen und ich habe es wütend aus der Wandhalterung gerissen.
Aha irgendwo ist also noch ein Loch in der Wand.
Es tickt unregelmäßig.
Die Uhr hat wohl auch gelitten.
Stimmt.. Nadine ist nach einigen katastrophalen Jobvermittlungsversuchen und 15
erfolglosen Vorstellungsgesprächen meinerseits dann einfach ausgezogen. Vielleicht waren
es auch ein paar mehr. Sie konnte es nicht ertragen mich so zu sehen, sagte sie.
'Du
hast dich -und uns- aufgegeben!'
Ja, das waren ihre Worte. Was sie
damit meinte, wusste ich damals nicht. Die Uhr wusste es auch nicht als ich sie
vom Nachttisch schlug.
N-A-D-I-N-E. Ein Wort. Sechs
Buchstaben, die nicht reichen, um sie zu beschreiben: Natürlich, atemberaubend, direkt,
intelligent, neugierig, einzigartig. Ich vermisse ihr strahlendes Gesicht beim
gemeinsamen Pizza essen, das immer vor Vorfreude glühte. Wie eine Tomate. Außer ihren Grübchen auf der Wange, die blieben weiß. 'Tomato' war übrigens ihr Spitzname. Sie ist dann immer noch röter geworden, wenn man sie so nannte.
Ich vermisse ihren skeptischen Hab-ichs-dir-nicht-gesagt-Blick,
wenn ich mal wieder von nichts einen Hauch von Ahnung besaß. Ich höre überall ihre süße Stimme. Sie zwitschert in der Küche, schwebt durch den nun leeren
Flur und kuschelt sich in mein Bett.
Das Bett, das mal unser Bett war. Und
lässt
mich wach liegen und einsam heulen.
„Ich bin auch ein Schwächling und Vollidiot!″, beleidige ich mich selbst. Ach, wie
gut das mal zur Abwechslung tut!
Es tickt. Etwas
unregelmäßig.
Ich lausche. Immer nur etwas unregelmäßig.
Jetzt merke ich es erst.
Einiges hat sie aber in unserer
Wohnung dagelassen als sie...als sie...auszog.
Im Bad zum Beispiel hängt noch ihr selbstgebastelter Handtuchhalter mit
verziertem Wandspruch: 'Save water shower
with your girlfriend'. Das war ihr Geschenk zu meinem 25. Geburtstag. Sie
duschte gerne lang und heiß und vor allem: liebend gern zusammen. 4 schöne Monate gehörte ich zu diesem Zusammen, auch wenn
ich sie davor schon länger kannte.
Wenn mich nun nachts mein Herz zu ersticken droht,
ich im Bett wach liege und Jim Beam
meine Nerven massiert, höre ich es: das Geräusch des strömenden Wassers auf ihrer hellen,
weichen Haut, die nach Magnolienblüten duftet. Ich erblicke ihre hellen,
braunen Haare, die tropfnass ihr rosiges Gesicht mit der kleinen, leicht
schiefen Nase umschließen: ein Vorhang aus fließendem Zimt. Wissend blinzeln ihre großen, saphirblauen Augen durch den
Strom aus Wassermolekülen. Ich sehe die sich freuenden Tropfen auf ihren dünnen, rosa Lippen, die nach Himbeere
und Dr. Pepper Cola schmecken und...
Ich beginne schon wieder wie ein
Schlosshund zu heulen. „Was ist los mit dir?", kanzel ich mich selbst. Bist
du ein Mann oder eine Memme? Aha. Selbstgespräche führe ich also auch schon. Ich bin ein
Mann, gestehe ich mir ein, auch ohne, dass ich mir extra meiner primären Geschlechtsmerkmale versichern
muss. Daraufhin ziehe ich langsam die Hand aus meiner Unterhose zurück. Auch als Mann kann man Tränen zeigen, denn auch als Mann ist
man ein Mensch mit Gefühlen, versuche ich mit dieser Peinlichkeit aufzuräumen. Nur bei rosa Hoppel-Häschen und bei Katzenbabyvideos sollte
man als Typ definitiv nicht flennen. Das ist nicht zu erklären und einfach unverzeihlich, mache
ich mir Mut.
Das wäre jetzt ein Prost-Moment. Wenn man
nur nicht übel
kotzen müsste!
Ich schlucke es knapp herunter. Viel war es nicht. Ganz leicht schwankt das
Zimmer. Sicher ist das von diesem billigen Fusel gestern.. Nachdem ich die
Augen für
einige Momente schließe, geht es wieder ganz gut. Kein Brechreiz mehr. Nur ein
bisschen schwankender Raum.
Nadine.
Sie mochte immer diese komisch
verzerrten und am Kopf aufgepusteten Katzenfiguren. Hello Kitty hießen die. Hallo Katze! Was für ein dämliches Marketing! Aber Hello Kitty lief gut. Warum, kann ich
mir nicht erklären.
Sie war süchtig
danach, genau wie ich nach ihrem hungrigen Blick. Ihr saphirblauer Blick. Ich
habe immer noch Hunger darauf.
Ich fasse mich langsam wieder. Dann
greife ich zielsicher nach der Flasche braunen Bourbon und genehmige mir einen
großen
Schluck.
Das Schwanken hat aufgehört. Dank Mr. Beam. Habe jetzt genau ein Fenster von einer Stunde bis ich wieder
etwas brauche. Einen Muntermacher. Meistens kommt dann Jack Daniel's zu Besuch. Ich nenne es immer Jackie's Time.
Toll, wenn die Kontrolle über die eigenen Gedanken zurückkehrt.
Let's face it: sie ist weg.
Nadine ist.. weg.
Genauso wie der billige Alkohol von
gestern! Ich versuche ein drittes Mal zu kotzen. Aus Gewohnheit. Oder zur
Vorbeugung. Je nachdem. Es kommt aber nichts mehr. Nur etwas Galle. Aromatisiert.
Ich liebe das. Im Rachen bleibt nur der samtige Geschmack von Bourbon-Vanille
zurück.
Ich habe Nadine nie gesagt, dass ich
sie liebe. Sie hat bestimmt darauf gewartet.
Na klar hat sie das! Sie ist eine
Frau! Und es gab so schöne Momente und Anlässe zu zweit. Ein goldener Sonnenaufgang
in Rom taucht hell vor meiner ahnungslosen Beschränktheit auf. Es tut weh. Lieben.
Dieses inflationär gebrauchte Wort. Sechs kleine, süße Buchstaben.
Wie Nadine.
„Ich liebe dich!" Na, jetzt ist
es raus! Ich bin ja mittlerweile auch der Schnulzenkönig. Geht also in Ordnung. 'Dich,
dich, dich...', hallt es durchs dunkle, einsame Zimmer. „War doch ganz einfach″, röchle ich zur schimmligen Zimmerdecke
empor. Scheiße,
das muss ich mir jetzt erklären. Ehrlich gestanden: 'Ich liebe dich' sagt man oft. Doch es meint man oft nicht so. Ich
habe mich schon immer davor gehütet es einer Frau zu sagen. Denn den ultimativen
Liebesspruch sagt man nicht leichtfertig, man muss es auch wirklich spüren und so meinen. Bei ihr meinte ich
es auch so. Sie war die einzige, bei der ich es so meinte.
Nun ist Nadine weg.
Ich brauche Whisky.
Ich brauche jetzt einfach Whisky.
Einer, der mich tröstet. Ich greife unwillkürlich nach Jim. Meine zitternde Hand umschließt die kühle Flasche und zieht sie zu mir. Dreimal
atme ich tief ein, die Flasche an der Brust. Ich möchte sie kurz aufdrehen, um den
Vanille-Duft zu riechen, überlege es mir aber anders und stelle
sie zurück
auf den Nachttisch. Unangetastet. Jackie
kommt ja schon in einer Stunde. Jim
hat Ruhe. Leicht schaukelt er in der Flasche auf dem Nachttisch.
Einladend.
Nadine.
Warum?
Warum bist du...?
„Man realisiert erst, was man hatte,
wenn man es bereits verloren hat." Als mein kehliges Bellen von der Wand
zurückgeworfen
wird, schnappe ich auch die Bedeutung dieses Satzes auf. Ich spüre die Worte stechend in der Brust. Stechend. Ist sicher wieder ein
verkacktes Sprichwort. Es stand bestimmt auch mal auf einer Werbetafel mit
einem Scheißkerl
darauf. Dass so etwas auch immer stimmen muss!
Nadine ist...Nadine ist...weg.
Blöder Fakt.
Will ich sie zurück? Ja!
Krieg ich das hin? Nein!
Also so zumindest nicht.
Ich quäle mich aus dem muffigen Bett,
balanciere über
sauren Mageninhalt, leere McDonalds-Tüten und halbleere Pizzaschachteln.
Dann stolpere ich ungelenk über gefährlich rollende Weinflaschen und krieche dahin, wo ich das
Bad vermute. Mir fällt
dabei auf, dass auch der Wein alle ist.
Der gute 2012er Spätburgunder.
Es tickt. Horchend schleppe ich mich -einen Fuß in der Alditüte
verfangen- ins Bad. Ich ziehe mich mühsam am stabilen Waschbecken hoch. Ich
schaue in etwas, was vor 4 Monaten ein Spiegel gewesen sein muss. Es tickt. Einzelne Stücke fehlen in dem gezackten
Arrangement. Die leicht verblassten Narben auf meinem Handrücken spannen sich schmerzhaft.
Leichter Schwindel. Ich umfasse das Waschbecken fester. Manchmal fällt der Abschied vom alten Jim etwas schwerer...
Angst vor dem was kommt, lähmt mich. Dann trete ich -so gut es
geht- vor und schaue in die Splitter, in denen ein seltsam verzerrter Mann zu
sehen ist. Tom Hanks aus Cast Away starrt mich fragend an. Ohne
Zweifel. Er sollte unbedingt mal Jackie
kennenlernen oder Jim.
Lange betrachte ich den Fremden in
meinem Spiegel, bis ich erschrecke, da Tommy Hanks so breit grinsen kann
wie...ich.
Genauso wie ich?! Ich lächele wirklich. So sehr, dass mir die lange nicht
benutzten Gesichtsmuskeln wehtun. Ich grinse genauso wie...früher mit Nadine; als wir uns im
wackeligen Fahrstuhl ihres heruntergekommenen Studentenwohnheims das erste Mal
küssten.
Damals sind wir eng umschlungen bis zur Dachterrasse durchgefahren, obwohl sie
in der 4. Etage eines 15-Stockers wohnte. Vielleicht sind wir auch paar Mal
hoch und runter gefahren. Naja ganz schlechtes Timing jetzt daran zu denken.
Mir droht fast wieder schwindlig zu werden. In meinen Kopf schleicht sich
automatisch das Bild einer kühlen Whiskyflasche..
„ICH bin es!", reiße ich mich mit einer mir plötzlich fremd vorkommenden Stimme ins
Jetzt zurück.
I-C-H !
Diese Selbsterkenntnis ist eine feine
Sache. Jetzt ein High Five mit Heraklit! Darauf greife ich mir beherzt in den
Schritt. Früher
habe ich das immer gemacht. Das weiß ich. Ganz klarer Prost-Moment. Immer
einen Schluck getrunken, wenn es geil war. Wie damals. Mit meinen Kumpels. Ich
müsste
nur einmal kurz zum Nachttisch und dann wäre das kein Problem. Ich drehe den
Kopf kaum merklich zur Tür. In Gedanken fühle ich das kühle Glas der Bourbonflasche. Nur ein
Schluck Jim. Mehr wäre es nicht. Einfach wenige Meter zurücklaufen und kurz etwas trinken.
Whisky ist auch nur Wasser. Was ist schon dabei?
Trinken. Ist wichtig. Alkohol. Ist überlebenswichtig.
Für mich.
Stimmt.
Aber Alkohol ist kein Wasser.
Das sagte auch Nadine.
Ich habe ein Problem. Ein Problem,
das ich lösen
muss.
Außerdem hatte ich doch erst etwas,
ermahne ich mich selbst. Jetzt nichts mehr bevor Jackie kommt! Das heilige Gesetz! Mein Gesetz. Es wird nicht
gebrochen, heische ich mich an.
Daraufhin meldet sich meine Säufernase nun auch endlich wieder zu
Wort: irgendetwas zwischen gekochten Eiern, brauner Banane und Schweißcocktail lässt sie beleidigt rümpfen. Ich gestehe mir zögerlich ein, dass 'foul-smelling Eremitage' nicht der betörende neue Männerduft von Douglas ist. Meine dringend nötige Aromatherapie hol ich mir
sogleich unter der Dusche.
Ich ziehe mich schwerfällig aus.
Ausziehen. Das hat Nadine auch
gemacht.
Und das macht man so, bevor man duscht,
rufe ich mir ins Gedächtnis. Nach 5 Minuten bin ich soweit und streife mir in
einem grandiosen Finish noch das duftende Polo-Shirt vom Arm. Dabei reiße ich irgendetwas -dass sich wie
zersplitterndes Hugo-Boss-Parfüm anhört- akrobatisch von der Anrichte
herunter und taumle fokussiert zur Dusche. Ich starre in einen aufgeblasenen
Katzenkopf. Ach ja, der ist auch von ihr. Also der Vorhang.
Hinter dem Duschvorhang mit Hallo-Katze-Motiv, der immer durch einen
nie zu unterbindenden Luftzug an meinem nackten Arsch kleben bleibt, wartet
schon wieder: sie. Nadine! Ich sehe einen Wasserfall aus Zimt. Ihre Lippen kommen
näher
und.. Ich drehe kaltes Wasser auf. Es ist eiskalt. Ich gebiete mir nicht zu
schreien, kann aber ein Seufzen nicht unterdrücken. Ich kann kurzzeitig nicht
atmen! Für
einen kurzen, schmerzenden Moment wird alle Luft weggepresst. Aber langsam geht
es schon wieder. Eine Zeit atme ich stoßweise in den kalten Regen vor mir.
Ich sehe wie mein Atem am kalten Wasser kondensiert und in einer schwachen Wolke
aufsteigt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie der erste Mensch stehe ich
unter der Dusche und schaue auf das Schauspiel herabfallenden Wassers und
aufsteigenden Atems. Plötzlich bekomme ich Angst.
Komm schon. Noch 45 Minuten bis Jackie kommt. Das Gesetz muss befolgt
werden.
Es tickt unregelmäßig. Nein! Nur etwas unregelmäßig. Jackie's
Time naht. Ja, sie naht. Schon etwas besser! Nach weiteren Minuten, die völlig neu an mir herunterfließen, beende ich ungeschickt durch gänzlich taube Glieder meine rituelle
Reinigung und stehe zitternd vor meiner Absolution. Sie kommt stoßweise:
Nadine.
Ich liebe sie.
Sie ist weg.
Ich - muss - das - akzep.. -akzeptieren!
Ich - muss - mich - wieder - hinkriegen.
Nicht mehr saufen.
Ich kann es nicht nur schaffen, ich
werde es auch ertragen lernen.
Jackie muss sich heute also mal verspäten.
Das Gesetz muss gebrochen werden!
Heute!
Jetzt!
Hart tropft meine Weisheit auf das
Terracotta-Muster der Badfliesen. Als ich einen nassen Schritt vortreten möchte, verliere ich plötzlich das Gleichgewicht.
Ich lausche, aber kein Ticken mehr.
Es ist still.
Kein unregelmäßiges Ticken mehr.
Unvermittelt sehe ich klar.
Vollkommen klar.
Ich sehe mich -nackt, mit den Armen
rudernd, im Schrecken begriffen- und weiß, was das bedeutet.
Ich kann nichts tun.
Ich sehe wie mein Kopf dumpf an das
Waschbecken aus massiven Porzellan knallen wird.
Jackie wird heute nicht kommen.
Das weiß ich.
Ich kann nur noch hoffen, dass mein
Gerichtsmediziner Nadine heißt.
Dann umfängt mich endgültig tiefe Dunkelheit.
Schwarz. Kalt. Unerbittlich wie meine Albträume.
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