Mittwoch, 2. November 2016

Der Herr der Sinne: Die zwei Türme


Bedrohlich ist der Abend. Es ist Halloween und die Stadt ist in fester Hand allerlei komischer Gestalten. Durch das diesige Wetter kommen trüppchenweise Axtopfer, Kürbisse, Vampire oder blutende Geister daher. Auch die Türme sehen geisterhaft aus. Das Wahrzeichen der Stadt. The Two Towers heißen sie auf der Touri-Map! Garisenda und Asinelli mit Namen. Unbeleuchtet ragen sie in den dunkelnden, leicht verhangenen Himmel Bolognas hinauf. Wenn man bis ganz hoch schaut, sieht man gerade noch die Spitze des größeren ohne sich dabei bleibend den Kopf auszurenken. Es wird einem schwindelig und man denkt der Turm bewege sich leicht. Aber gut, es sind ja nur 100m senkrechter Stein. Als ich mich spontan entschloss die 498 Stufen bis zu seiner Aussicht hinaufzusteigen, konnte ich nicht ahnen, dass ich neben einem faszinierenden Blick auch noch doppelt belohnt werden würde. Auf der letzten Stufe der höchsten Erhebung der bebauten Stadt traf ich sie. Keinen Geist. Jemanden aus Fleisch und Blut. Gänzlich unbedrohlich. Sie wollte hinunter, ich hinauf. In einem der zwei engen Türme über Bologna. Innerhalb weniger Augenblicke schmiedeten wir ein Bündnis, um über Bologna zu herrschen (völlig frei nach J.R.R. Tolkien). Sie heißt Esther und sie ist ein Stern, wie es ihr Name bedeutet. Ein Wort hat uns ganz oben auf dem schwindelerregenden Bau verbunden: Höhenangst. Und mit diesem Wort auch ganz viele andere. Denn sie kann Deutsch. Ihre Wiener Abstammung merkt man nicht bzw. der Geübte, wenn er es darauf anlegt, nur ganz selten. Sie kommt aus einem Wiener Kiez im 18. Arrondissement (in der Nähe meines ehemaligen Hostels) und nimmt nach ihrem Abi gerade eine Zeit lang Auszeit. Eine Auszeit von allem!
Sie interessiert sich für Kunst und hat ein Händchen für Malerei. Das Studium verleidet ihr aber die Kunstgeschichte und der ganze Aufnahmeprüfungsstress, sodass sie Studieren erst einmal auf Eis gelegt hat. Sie fotografiert leidenschaftlich gern, schauspielert, dreht und schneidet selbst Videos. Auch im Modelbereich ist sie aktiv gewesen, hatte aber keinen Bock dafür länger auf ihre 5 Kilo mehr zu verzichten, die ihr ihrer Meinung nach zustehen und ihr auch gut stehen. (Das findet der Autor.) Sie reist, weil ihr Wien -wie früher oder später alle Wiener- heftig auf den Kopf gefallen ist. Sie hat genug von ihrem Gemeindebezirk, möchte raus aus der Gegend, wo sie so lange gelebt und Dinge stumpf erlebt hat. Weg von ihren eingefahrenen Wiener Kaffeehäusern und den immer gleichen Leuten, die sie schon kennt und die man immer wieder sieht. Weg von Routinen, die man immer wieder von Neuem startet. Es fällt schwer sich von diesen Routinen zu lösen, dabei wird man stetig von diesen aufgelöst. 
Der Wiener ist nämlich einer, der sich einigelt und sich melancholisch bis selbstzerstörerisch innerlich auffrisst. Die Stadt macht einen so. Ich habe mit Esther nun den dritten Wiener Bürger getroffen und großzügigerweise kennenlernen dürfen und alle haben mir ihre Verwandlung ziemlich gleich geschildert. Das ist kein Mist und purer Ernst! Jeder Wiener erreicht offensichtlich einen Punkt im Leben, an dem er die Lebensbejahung verneint und in seiner selbstgeschaufelten Enge des Daseins der Weite verlustig wird. Dann fängt er an zu kiffen oder Schlimmeres. Es muss also stimmen. Das eigentliche Wien ist nicht das Wien der Touris. Kein Prunk und Pomp und ein Leben der Lebemänner und der Schickeria. Es ist künstlerisch erlernte Fassade. Eine Larve des Selbst, in der man sich zwangsläufig gefällt, doch einen harten Preis zahlt: zu fallen! Es ist ein stupides und oft einsames Wiener Leben. Ein täglicher Kampf mit sich selbst, der Möglichkeiten in seiner Anlage unmöglich macht: Das ist Wien! Jetzt verstehe ich gut wovon Wanda singen. Esther hat sich mit einem Kraftakt entschließen können zu reisen und die Larve abzulegen, deshalb ist sie in Bologna. (Ferien-)Reisen haben ihr immer etwas gebracht: Zeit für sich; die Leere mit etwas füllen. 
Morgen checkt sie in Florenz ein. Im Gespräch war uns auf Anhieb klar, dass wir uns dort wiedersehen werden, da auch meine weitere Reise nicht an dieser Stadt vorbei führt. Wir werden sogar im selben Hostel sein, was wirklich großer Zufall ist. Wir konnten es beide nicht glauben und schüttelten belustigt den Kopf. Im rumpeligen Hostel-Flohmarkt fanden wir vor einigen Tagen dasselbe Hostelschmuckstück. Die Welt ist klein. Auch in Restaurants: Als die junge Wienerin fortmusste, suchte ich eine italienische Trattorie auf, um zu Abend zu essen. Mal nicht Pizza, Sandwich oder Nudeln, sondern Aperetivo. Am Nebentisch in einer groovischen Bar traf ich auf zwei -was soll ich euch sagen- ausgesprochen nette Dresdnerinnen!!! Aufgeschlossen hießen sie mich an ihrem Platz willkommen. Wieder reicht ein Wort und man kommt zusammen. Fernab von zu Hause und mit einer Sprache, die man schon vermisst geglaubt hat. Unglaublich! Doch wahr. Mitten im Herzen Mittelitaliens. Halloween ist echt strange. Gar nicht bedrohlich. Zufälle, Ungeplantes, Aufregendes. Deshalb mag ich Reisen so. Man weiß nie was kommt, wenn man irgendwo umhergeistert. 




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