Seelenbahlsen dieses Reiseproviant. Schmeckt lecker. Also der Teig-Kräcker. Ich meine den Keks von Bahlsen. Und es heißt nicht Seelenbahlsen, sondern Seelenbalsam. Denn es tut der Seele gut, wenn man Süßkram isst. Gerade dann, wenn man etwas neben der Spur ist. Ich habe Probleme mich zu erinnern. An das was war. Und an das, was ist. Was ist wahr? Was ist falsch? Ich trockne gerade mein nasses Gesicht mit dem Fleeceärmel meines Pullovers ab. Der Schweiß des Moments klebt mir noch vereinzelt kalt auf Stirn und Nacken. Der Kräcker kann echt was. Ich werde ihn doch Seelenbahlsen nennen. Ich komme wieder zu Kräften.
Ich musste nämlich rennen. Nun für eine lange Zeit nicht mehr. Ich bin sicher. Sie werden mich nicht finden. Hoffe ich. Sie werden eine Weile brauchen. Wer sind sie? Ich weiß es nicht. Alles sehr aufregend. Auch ich war so aufgeregt, dass ich fast vergessen hätte das Gleis zu wechseln. Am Bahnhof, da wo meine Reise beginnen sollte und fast geendet wäre. Ein gesunder Sprint über 200m ließ mich dann doch noch meinen Zielort pünktlich erreichen. Wahr. Nur etwas anders als geplant. Und übernachten musste ich auch woanders. Auch wahr.
Gestern war das. Und es fängt heute schon wieder genauso an wie gestern. Ich muss beinahe lachen. Ich lache schon wieder zu lang. Verrückte Sache! Aber der Reise nach...Der Reihe nach. Jede Geschichte hat einen Anfang. Manchmal frage ich mich, ob es wirklich passiert ist. Es ist gut sich das zu fragen. Ich erzähle mir die Geschichte die letzten Stunden ständig, damit ich weiß, was wahr und was falsch ist. Meine geht so:
Ich mag Zugfahren. An jeder Ecke verlockt es einen. Man möchte von seiner festgefahrenen Trottverfassung entgleisen. Man möchte überall die Notbremse ziehen, um mal auszusteigen. Einfach gucken. Außer vielleicht in Brandenburg, da schließt man lieber die alten Gardinen und fährt durch. Zu langes Zugfahren ist für mich oft auch immer anstrengend gewesen. Besonders, da es zu spannend ist. Gerade wenn man verfolgt wird. Aber wann wird man das schon. Das kann ja nicht sein. Ich meine eine Fahrt im Zug ist spannend, denn man kann Leute unauffällig beobachten. Natürlich völlig wertfrei und unvoreingenommen. Unauffällig beobachten heißt, so unauffällig, dass sie es ohnehin merken müssen. Schließlich machen sie es ja auch..
Ich beobachte gern. Jetzt muss ich ständig beobachten. Ich werde eine lange Zeit gut beobachten müssen. Warum sag ich das? Hab ich es gesagt? Ich beobachte gern. Jeden Fahrgast.
Jeder Fahrgast hängt seinen eigenen Gedanken nach. Jeder hängt seinen Träumen nach. Der halbleere Kaffeebecher wird umkrallt wie ein Rettungsring. Einige Leute schwimmen nur noch im eigenen Leben. Bis ihnen das Wasser zum eingeschnürten Halse steht. Das wars dann.
Der Rest ist Fremdbestimmung, wo man hinschaut. Längst verschwundener Bohnengeruch weht durchs Schlafzentrum des Zugabteils.
Erwachende Unerwachte überall in einen Meer von Kaffeebechern. Ihr gebrochener Blick sagt: 'Ist das dein Ernst, dass du heute aufgestanden bist?', 'Passiert das gerade wirklich?' oder 'Was für ein geiler Typ, der mich so unauffällig beobachtet'. Toll sich solche Geschichten zusammenzureimen.
Genau. Ich reime mir bestimmt nur alles zusammen. Es ist nichts passiert. Es war nichts.
Auch die Namen der Orte, die an der Zugscheibe auftauchen, sind ein Gedicht und sorgen in Abständen für Unterhaltung. Weltbewegend ziehen sie an einem vorbei: Nirgendwo 1, Wo-bin-ich 2, Ist das eine Stadt 3, Oh-ein-Reh 4...
Man lächelt fast schon als die Stimme des Schaffners, den man auch schon kumpelhaft mit Vornamen kennt, im Lautsprecher verkündet, dass wir aufgrund eines grillenhaften Grashüpfers auf dem Gleis nicht weiterfahren können. Meine Augen weiten sich. Dann verengen sie sich schlagartig. Ich verkrampfe leicht. Man weiß augenblicklich, dass der versicherte Anschlusszug nicht warten wird. Die Träume der schlafenden Kaffeebecherhalter, die man nun wieder augenblicklich beobachtet, werden finster. Verspätung, Gleisstörung, defekte Oberleitung, Über-Spannung, Triebwerkschaden... träumt es sich abenteuerlich auch in mich hinein. Und noch etwas anderes. Etwas, das ich mir nicht erklären möchte. Wahr? Nicht wahr? Wie spannend. Ganz ohne Kaffee. Man möchte lachen. Ich lache über die ganze Situation.
Nach dem Mord lachte ich auch. Jetzt hab ichs doch gesagt: Mord! Ich wollte es nicht. Es ist einfach so passiert. Aber es kann ja doch nicht sein. Ich lache..weil man es in dieser Situation nur kann! Ich bin auf der Flucht. Bin ich wirklich auf der Flucht? Ich lache los. Ich lache, weil es das Einzige ist, was mir übrig bleibt.
Der Anschluss wird doch noch erreicht. Ich entspanne mich wieder etwas. Es ist ja doch nichts passiert. Ich reime mir nur etwas zusammen. Wahr!? Man möchte aufspringen. Erneut der Schaffner. Also man wird darüber informiert, ob der Anschluss erreicht wird. Ich weiß, was das heißt und krampfe leicht. Der Zug wartet vielleicht. Also höchstens im darauffolgenden Bahnhof 30km entfernt. Ich möchte versinken, in dieser harten Pritsche auf der man sitzt. Für 5 Stunden lebt man dann auch darauf. Ein unbequemes Leben. Wahr! Eines bis zum Hals im Wasser. Wahr? Aber ein Leben, das ich brauche. Ein anderer vielleicht nicht. Mord! Es kommt mir in den Sinn. Ein blutiges Messer. Drei schnelle Stiche. Aber kein Grund zur Panik! Ein toter Schaffner würde nur die Aufmerksamkeit erregen. Ist nur eine läppische Verspätung. Das ist doch die Art der Aufregung, die man stürmig herbeigesehnt hat. Man muss das Abenteuer im Kleinen greifen. Das sag ich mir. Drei Stiche. Ist auch nichts Großes. Wahr! Bis der Grashüpfer weghüpft, spiele ich derweil 'Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst' mit meinen träumenden Mitfahrern. Teuflischer Spaß. Ich gewinne. Fünfmal! Fünfmal ist die Lösung meine grau-rote Rückenlehne, danach verliert das Spiel überraschend an Fahrt. Nachdem ich auch die trostlose Landschaft eingängig beäugt habe und das so lange, dass ich sie ein Jahr später noch detailgetreu malen könnte, geht's auch schon weiter. Zum Glück. Ich muss nicht mehr zum Schaffner gehen. Ich lache gepresst. Habe ich vorhin etwa an Mord gedacht? Wie töricht. Das blutige Messer verschwindet. Die drei Stiche aus dem das Blut kommt, bleiben. Komischerweise verschwinden sie nicht. Warum verschwinden sie nicht? Ich schwitze leicht. Günni, der Fahrkartenabrissberechtigte, verkündet schnaufend die Rettung des Grashüpfers. So als wäre er höchstselbst daran beteiligt gewesen. Das ist Leidenschaft pur. Also so etwas schafft pures Leiden. Ja, so meinte ich das. Den Mord meinte ich nicht so. Der ist einfach passiert. Aber ist er das? Ist es wahr oder falsch?
Es tut weh, dass die sausende Fahrt bald wieder mit einem außerplanmäßigen Halt beginnt. Irgendein reisefreudiger Trottel hat den Nothalt gezogen. So ein Träumer. Das ist bestimmt so einer, der 40Minuten vor Zugabfahrt am falschen Gleis steht und dann kurz vor knapp mit halbem Haushalt zur richtigen Schienenbahn sprinten muss.
Ich lache. Ich lache teuflisch. Mordsmäßig.
Ich lache, einfach weil ichs kann.
Dann klicken die Handschellen. Irgendein grüner Grashüpfer und sein Freund führen mich ab. Was für ein Abenteuer.
Dann klicken die Handschellen. Irgendein grüner Grashüpfer und sein Freund führen mich ab. Was für ein Abenteuer.
Aber das war gestern. Heute ist heute. Na klar! So ist es. Heute sitze ich ja im Zug. Ich bin sicher. Vorerst. Vor was auch immer. Es kann ja nicht wahr sein, oder? Nicht wahr. Also falsch! Ich lese in der Zeitung. Die Morgenausgabe der Süddeutschen. Meine Augen weiten sich. Es gab einen zweiten Mord innerhalb von zwei Tagen. Einen Doppelmord. Zwei Polizisten. Erstochen. Jeweils drei Stiche. Verwundert esse ich die ganze Packung Kekse.
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