Dienstag, 21. März 2017

Drei Sommer Lisa


„Gibt es denn keinen Abschiedskuss?", frage ich hoffnungsvoll.
„Küss mich doch da, wo die Sonne nie hinscheint!", wirft sie mir in ihrer selbstsicheren Art an den Kopf.
Das wirkt stark auf andere. Schon immer. Ich spüre aber, dass ihre Stimme leicht zittert. Als sie sich schnell umdreht, glaube ich kurz in ihren Augen etwas Gläsernes zu sehen. Als würde sie...weinen? Dann ist Lisa fort. Sie liebte schon immer blumige Aussprache. Sie war wie ein Dichter. Und ich weiß, was sie damit meinte: „Leck mich am Arsch!" Ich würde liebend gerne ihren wohlgeformten, sexy Knackarsch lecken, aber dennoch habe ich das Gefühl, dass sie das nicht wörtlich verstanden wissen möchte. Sie hat mich darin geprägt auf die feinen Nuancen ihrer Stimme zu achten. Nuance, auch eines ihrer akademischen Wörter. Sie hat mich ihre Sprache gelehrt. 3 Jahre lang.
Ich wusste es: Sie war eigentlich immer über mir. Nicht nur im Bett. Immer. Von Anfang an konnte ich ihr nie das Wasser reichen. Von Anfang an war sie für mich die geile, intelligente Studentin und ich der blöde, begriffsstutzige Hartzer.
Warum sie mit mir ausging, wusste ich nicht. Mit dem Psycho wollte eigentlich niemand ausgehen. So nannte man mich in der Schule. Psycho. Weil ich früher mal beim Psychologen war. 
Was ich weiß: Sie war meine Welt. Diese Welt hat sie mir erklärt. Nachdem ich sie langsam verstanden habe, hat sie mich abserviert. Ich wusste, dass das so kommt. Von Anfang an wusste ich es. Und so kam es ja auch. Sie war Über. Sie war zu intelligent für mich. Eine andere Galaxie. Sie war die helle Sonne und ich ein dunkler, scheiß unscheinbarer Mond, der willenlos um sie kreiste. Wir passten nicht zusammen, sagte man. Das sagte ihre Mutter. Es sagten auch ihre Freundinnen. Es sagten alle.
Ich fand, wir passten trotzdem gut zusammen. Sie hat oft über mich gelacht. Ich meine, nicht nur über meine Begriffsstutzigkeit und verpeilte Art, sondern weil ich sie wirklich zum Lachen bringen konnte. Glaube ich. Ich war lustig und meine (manchmal etwas schlüpfrigen) Witze kamen bei ihr an. Humor, das war mein Trumpf. So was in der Art sagte sie mir auch einmal. Einmal als sie nach der Erstsemester-Tequila-Party unglaublich voll war und ich sie nach Hause tragen musste. Voll war sie schon nach einem kleinen Bier und drei Tequila. Da ist ihre sonst so starke Stimme dann richtig sanft. Sie selbst wirkt verletzbar, nicht mehr so ernst und selbstsicher: „Weißt du. Du bringst mich als Einziger wirklich zum Lachen. Du schaffst es immer", nuschelte sie damals betrunken auf meinem Rücken. Ich umfasste ihre heißen Schenkel, die aus ihrem kurzen, schwarzen Rock ragten und war wie gelähmt. Ich spürte sie in dieser warmen Nacht im Juli zum ersten Mal richtig.
Nicht nur ihre zarten Beine, sondern sie selbst: diese intelligente Studentin mit dem lachenden Namen Lisa. Die Frau, die immer alles für mich sein wird. Nachdem sie das mit dem Lachen sagte, konnte ich nur weiterhin wie im Rausch geradeaus gehen. Mit ihr auf dem Rücken. Draußen war es warm, aber am ganzen Körper bekam ich Gänsehaut. Ich fühlte sie. Mit jeder Faser fühlte ich sie. Mir war es egal, dass sie danach auf meine neue Wildlederjacke kotzte. Als sie fertig gekotzt hatte, murmelte sie noch etwas Unverständliches. Unter den Brocken hörte ich „mein Sherpa″ und etwas mit „mich keiner wirklich mag″ und „schöne, einsame Welt″ heraus. Dann schlief sie ein. Wie ausgeknipst.
25 Minuten trug ich sie nach Hause. Es fuhr keine S-Bahn und auch kein Bus mehr. Mir tat alles weh. Aber das war mir egal. Ich hätte sie für immer getragen. Egal wohin. Ich trug sie dann zu ihrer Wohnung. Ich war glücklich. Auch als blöder Hartzer und komischer Psycho. Einfach nur glücklich. Ihre Wohnung war da wo wir bisher ab und zu gemeinsam mit ihren versnobten Studienkollegen oder allein Serien geschaut haben. Versnobt ist auch ein Wort von ihr gewesen. Das heißt so viel wie überheblich oder von sich überzeugt sein. Das war ich auch. Mit ihr an meiner Seite -oder eher auf dem Rücken- war ich überzeugt, alles zu schaffen.
An jeden Schritt, den ich sie trug und ihr leises gleichmäßiges Atmen in meinem Ohr hörte, erinnere ich mich. Ab dem Moment wurde für mich eines klar: Ich wollte sie immer zum Lachen bringen. Lisa sollte bei mir immer lachen können, wenn ihr danach ist.
Ich schaffte es irgendwie den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstür zu stecken, ohne sie zu wecken und absetzen zu müssen. Auch wenn ich mir dabei leicht den rechten Arm verdrehte, der vom Tragen ohnehin schon höllisch schmerzte. Aber ich wollte sie unbedingt nicht wecken. In ihrer Wohnung angekommen, schloss ich leise die Tür, trug sie durch ihr aufgeräumtes Zimmer und legte sie vorsichtig aufs Bett. Danach massierte ich lange meinen Arm. Der Schmerz tat gut. Der Schmerz machte es real. Er sagte mir, dass es gerade wirklich passierte. Ich stand eine Weile auf ihrem Zimmerteppich und traute mich nicht ihr die schmutzigen, verschwitzten Sachen auszuziehen. Ich hatte das mal in einem amerikanischen Film gesehen. Da zog ein Typ ein Mädchen aus, das ziemlich viel getrunken hatte. Dass ich es nicht tat, hatte nichts mit schüchternem Verhalten zu tun. Das macht man einfach nicht, wenn die Frau nicht ansprechbar ist! Deshalb nahm ich nur steif ihre Bettdecke und deckte sie kurzerhand zu. Ich stand auf und wartete einen Moment. Ich war unschlüssig, ob ich sie nun anschauen durfte oder nicht. Ohne ihr Wissen einfach anschauen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der sein Entdecken fürchtet. Nein, eher wie ein Spanner, der etwas Ungeheuerliches tut und verließ ihr Zimmer. Ich ging leise ins Bad und wusch gebeugt die fast eingetrockneten Kotzbrocken von meiner Lederjacke.
Früher oder später wird man angekotzt. Dann fühlt man sich selbst wie Kotze. Für mich war das nichts Neues.  Auf mich wurde immer schon gekotzt. Seit ich klein bin. Deshalb musste ich zweimal im Monat wohin. Zum Psychiater. Psycho war nicht ohne Grund mein Spitzname. Mein Vater kotzte auf mich und meine Mutter auch. In der Schule ging es weiter. Da kotzten meine Mitschüler auf mich. Einer nach dem anderen. Irgendwann fügt man sich dann darin und lebt den Kotzbrocken, weil einen alle zum Kotzen finden. Doch bei Lisa ist es anders. Lisa ist anders. Ich blickte auf.
Lisa ist anders.
Meine Jacke war nun sauber. Ich drehte den Wasserhahn mit einem leisen Quietschen zu und streifte langsam das warme Leder über meine Schulter. Ganz vorsichtig. Mein rechter Arm schmerzte noch immer etwas. Ein tolles Gefühl. Denn Schmerz ist Realität.
Schmerz macht alles ganz und gar real.
Ich war im Begriff zu gehen und gedachte Lisa schlafen zu lassen. Als ich leise das Bad verlassen hatte, ging ich auf Zehenspitzen zur Wohnungstür.
Zu der Tür, die mich in die Realität zurückbringen wird. Nein. Sie wird mich wieder in meine altbekannte Welt kotzen. Eine Welt ohne Lisa. Ich werde beim nächsten Mal besser auf sie Acht geben, gestand ich mir. Sie darf nicht mehr so viel trinken.
Ich starrte eine Weile an Lisas Wohnungstür, die mit Urlaubsbildern beklebt war und überlegte. Auf allen Bildern lächelte sie. Ein glückliches Lächeln.
Ich überlegte lange und wurde mir einer Sache ganz deutlich bewusst. Wie ein Funke Licht in einem Meer von Dunkelheit. Immer heller und heller leuchtete er auf. Besser auf sie Acht geben. Besser auf sie achten. Ja, das werde ich. Mir wurde schmerzlich bewusst, was das heißt.
Es wird nämlich kein nächstes Mal geben. Das war das letzte Mal. Jetzt ist das letzte Mal. Ich habe es dazu kommen lassen, dass sie zu viel trinkt. Das war nur der Anfang. Zu was bin ich noch im Stande? Ich bin nicht normal. Ich bin ein Psycho! Schon immer gewesen. Schizoid. Schizoide Persönlichkeitsstörung. Das sagte selbst mein Psychiater. Ich kann es nicht riskieren sie zu verletzen! Ich will es nicht. Ich bin nicht der Richtige für sie. Nicht gut genug für sie. Das weiß ich. Ich wusste es eigentlich schon immer. Ein anderer wird auf sie aufpassen müssen. Besser als ich es je kann. Sie wird mich vergessen. Das ist besser für sie.  
Ein letztes Mal betrachtete ich die Fotos an der Wohnungstür. Die Fotos mit ihrem Lächeln darauf. Ich wollte ihr Lächeln so lange anschauen, bis ich es nicht mehr vergessen könnte. Sie wird wieder auf einem anderen Foto lächeln. Glücklicher. Mit jemand anderem, der neben ihr lächelt. Glücklich.
Eine Hand an der Messingklinke schaute ich ein letztes Mal zu Lisa ins Zimmer. Einmal will ich sie doch anschauen. Ein letztes Mal. Ob Spanner oder nicht. Ein letztes Mal will ich sie anschauen! Wenigstens ein Mal. Meine Lisa.
Ich spähte angestrengt in ihr Zimmer hinein und suchte Lisas Umrisse. Durch die Dunkelheit erkannte ich es nicht gleich: Ihr Bett war...leer!
Das kann nicht sein! Kalter Schweiß brach mir aus. Ich nahm die Hand vom kühlen Messing der Türklinke und trat verwundert in ihr Zimmer. Mit leicht zusammengekniffenen Augen näherte ich mich Lisas Bett bis ich ganz nah davor stand. Es war leer! Komplett leer. Keine Lisa. Wie kann das sein? Ich habe sie doch eigens ins Bett gelegt und zugedeckt! Oder nicht? Habe ich alles etwa geträumt? Habe ich...habe ich etwa..? Ich griff zweifelnd an meinen Kopf und schloss meine Augen. Nur dreimal tief Ein- und Ausatmen.
Unweigerlich taucht ein hoher, weißer Raum auf. Er beißt sich fürchterlich mit seinem dunklen Parkettboden. In einer Ecke steht eine mickrige Nipapalme. An der rechten Wand hängt ein schlecht gemaltes Panorama, das eine im See spiegelnde Berglandschaft zur Winterszeit zeigt. Etwas mit der Perspektive stimmt da nicht. Mit dem Licht des einzigen Fensters im Raum hätte das Gemälde sicher ganz gut ausgesehen. Es hätte dem Ort mehr Freundlichkeit gegeben. Aber dem war nicht so. Alles im Raum wirkt unpassend. Als stimme etwas nicht. Als müsse man alle darin befindlichen Objekte komplett neu arrangieren, um das volle Potential zur Geltung bringen zu lassen. So liegt das einzige Fenster verschlossen hinter schweren Gardinen, die muffig und nach Zigarrenrauch riechen. Licht gibt nur eine grelle Stehlampe, die sich in der Mitte des verlorenen Raumes befindet. Neben einem kleinen, runden Holztisch mit einer hübschen, zitronengelben Orchidee darauf, die in einer fragil wirkenden Porzellanvase steckt. Herum sind ein simpler, schwarz-lederner Sessel und ein farblich passendes Kanapee organisiert. Der Sessel auf der einen Seite des Tisches, das Kanapee auf der anderen.
Wie oft lag ich auf diesem harten Stück 21. Jahrhundert? 20, 30, 40 Mal? Reicht das? Wie oft? Die genaue Anzahl der Besuche bekomme ich nicht mehr zusammen.
Der Psychiater war mein bester Freund als damals alle auf mich kotzten. Seine runden Brillengläser waren wie zwei Kloschüsseln, welche die ganze Kotze aufnahmen. Seine wulstigen Augenbrauen waren wie zwei Spülschalter. Unablässig gingen sie hoch und runter. Mein Psychiater war wirklich okay. Auch wenn er selbst ein nerviger Besserwisser und schleimiger Aufreißer war. Also privat, außerhalb der Sprechstunde. Innerhalb der Sprechstunde konnte ich bestimmen, da nahm er sich zurück. Auch wenn es sich verdammt hart auf dem schwarzen Kanapee lag. Trotzdem war alles gut. Auch wenn ich dann für viele meiner Mitschüler nur noch Psycho hieß. Das wäre okay gewesen, aber für viele war ich es dann auch. Ein Psycho. Sie kriegten es irgendwie heraus, dass ich dahin ging. Von da an war es dann auch egal, dass ich regelmäßig dahin ging. Trotzdem hatte ich immer etwas, was sie nicht hatten: ich wusste, dass ich kein wirklicher Psycho war.
Es war alles gut. Trotz der immer gleichlautenden Diagnose: Schizoide Persönlichkeitsstörung. Was heißt das schon? Hier auf dem harten Kanapee fühlte ich mich wohl. Gebraucht und verstanden. Und es kostete nichts. Manchmal spielten wir sogar Schach. Mr. Augenbraue und ich. Oft konnte man auch einfach schlafen und musste nichts sagen. Hier in der Sprechstunde kotzte keiner auf mich. Hier war ich mal ich selbst. Es war fast mein wirkliches Zuhause...
Ich riss mich zurück ins Jetzt und öffnete meine Augen. Es war düster. Fast wie in der Praxis bei meinem Psychologen. Gleich werden zwei runde Brillengläser erscheinen, die mich prüfend anschauen.
Ich schüttelte das längst vergangene Bild aus meinen Gedanken.
Ich erkannte ein Bett. Das Bett, wo Lisa hätte liegen müssen. Es war leer. Ich hatte sie doch eigens ins Bett gelegt! Ich könnte schwören. Nein, da war ich mir sicher! Sehr sogar.
Um dem erneut aufkommenden Schock Einhalt zu gebieten, griff ich nach der Decke. Sie war noch warm. Als hätte kürzlich jemand darin gelegen. Als ich mich schon umdrehen wollte, umschlossen mich plötzlich von hinten weiche Hände. Ganz sanft umarmten sie mich. Ich nahm wie im Trance die Hand von der warmen Bettdecke. Fast unhörbar glitt sie zu Boden. Der Boden, der kein dunkler Parkettboden war, sondern Teppich. Der Teppich in Lisas Zimmer. Ich drehte mich erleichtert um. Ich war mir sicher, dass sie da war.
Da war sie! Lisa!
Lisa, die mich immer noch umschlang. Ich drehte mich ganz zu ihr um. Sie ist es. Sie ist hier. Keine Einbildung! Lisa reckte ihren hübschen Kopf leicht nach oben und blickte mich an. Ich war wie gebannt. Lange blickte sie mich an. Ich versuchte jede ihrer Sommersprossen zu zählen, die wie ich wusste, auch in der Dunkelheit da sein mussten. Sie war sehr nah. Heiß spürte ich ihren Atem in meinem Gesicht. Dann konnte ich mich nicht mehr rühren. Ich konnte nichts mehr tun und an nichts denken als sie ihre feuchten Lippen auf die meinen presste. Immer wilder presste sie sich in meinen Mund hinein. Gierig schlürfte sie meine dunkle Seele aus mir, meine Kotzbrocken-Vergangenheit. Dann fraß sie mich vollends auf! Dann fraßen wir uns beide!
Nach dem geilen Sex auf ihrer weichen Wohnzimmer-Couch wurde Lisa dann meine geile, intelligente Studentin. Sie erklärte mir ihre Welt. Ihre Welt der akademischen Wörter. Ich habe sie langsam verstanden. 3 Sommer lang lachte Lisa durch mein begriffsstutziges Leben. Das Leben, das keinen Psychologen, sondern einen Dichter brauchte. Offiziell passten wir nun zueinander. Wir waren eins. Auch ihre Freundinnen fanden das. Ihre Eltern letztens Endes auch.
Das war bevor dem Fremdgehen. 
Das war bevor jemand fremdgegangen ist.
Dieser jemand muss echt ein Kotzbrocken sein.
Ich sehe sie gehen und in der Menge verschwinden.
Für immer.

„ICH bin dieser Kotzbrocken!"

Zwei runde Brillengläser schauen mich über einen Holztisch hinweg fragend an.
Eine Orchidee liegt zerdrückt auf dem Parkettboden, umringt von feinen Porzellanscherben. Ein Klecks Zitronengelb mit winzigen, weißen Strichen, die davon wegstreben. Alles in einem riesigen Meer von Dunkelheit. Eine verlöschende Sonne. Das perfekte Gemälde. Hart spüre ich noch den Druck des unnachgiebigen Leders unter mir, obwohl ich stehe. Mein Arm ausgestreckt, mein Mund geöffnet, die Augen starr. Fast manisch. Wie lange ich schon so verharre, weiß ich nicht. 
Es spielt auch keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr irgendeine Rolle. Ich fühle zum ersten Mal die gähnende Leere des Behandlungszimmers. Eine Leere, die mich erdrückt. Erdrückt wie noch nie.
Ich schaue Hilfe suchend zum Fenster. Ein Fenster, das durch dicke Gardinen verborgen bleibt. Nur eine Stehlampe leuchtet grell die Wahrheit aus. Eine Wahrheit, die allein mir gehört: 
Das ist mein Zuhause. 
Ich bin ein Psycho.

Dienstag, 7. März 2017

Jim und Jack, meine neuen Mitbewohner.


Keuchend fahre ich aus meinen Albträumen hoch. Schweißgebadet versuche ich mich zu orientieren.
Wo bin ich? Es tickt. Ist das meine Uhr? Es tickt unregelmäßig. Es ist meine Uhr. Ich bin also zu Hause. Im Bett. Doch eigentlich bin ich woanders. Ich denke nur an sie. Ständig muss ich das. Du fehlst", flüstere ich ungewohnt ins Nirgendwo. Verdammter Mist. Im Grunde halte ich von Schnulzen doch nichts.. Okay sie fehlt mir. Das wollte ich mir doch nie eingestehen! Ich greife abwesend nach links. Meine Hand umschließt...Leere. Nur Leere. 
Keine Nadine. 
Meine Welt dreht sich gerade. Buchstäblich. Alles dreht sich und ich bin die Rotationsachse. Verzweifelt erwischen meine zittrigen Finger ein flaches etwas: mein Smartphone. Keine neue Nachricht von ihr. Seit 4 Monaten nicht. Ich versuche mich abzulenken, was mir im Social-Network-Zeitalter spielend leicht gelingen sollte. Den Rest macht der Alkohol. Ich höhle mich stetig aus damit. Das weiß ich. Aber das Drehen wird weniger. Bald hört es ganz auf. Das Gefühl kenne ich. Dann kann ich wieder ein bisschen Alltag aushalten. Bis es von vorn beginnt.
Nadine.
Ich date, um sie zu vergessen. Was nicht funktioniert. Auch das weiß ich. Ich muss damit aufhören. Aber ich kann nicht. Mir droht schlecht zu werden und die pampige Currywurst von gestern hochzukommen. Ich glaube dass es Currywurst war. Schließlich esse ich jeden zweiten Tag eine. Also stehen die Chancen ganz gut. Ich versuche ruhig zu atmen, kralle die Hände in meine Bettdecke und schließe kurz die Augen. Ich schiele danach mühsam auf das, was ich als das Display meines Handys vermute. Ich versuche etwas zu erkennen. Eine Freundschaftsanfrage von Cyntia. Oder sollte ich sie lieber Ich-räkel-meine-drallen-Silikon-Brüste-in-die-Kamera-am-monegassichen-Strand-und-habe-aufgehört-authentisch-zu-sein nennen?
Pff. Authentisch. Muss ich ja groß von tönen. Sofort taucht das Bild von Nadine in meinem hämmernden Kopf auf. Meiner Nadine. Und ich... Nein! DAS ist die Realität: Cyntia! Sie ist die Realität! Cyntia ist.. Wer ist das eigentlich? Cyntia ist die Frau mit den drallen Silikon-Brüsten! Ich drücke nach kurzem Zwiegespräch, das mein Kopfschmerz klar für sich entscheidet, auf 'Anfrage annehmen'. Der Raum dreht sich wieder. Karussell fahren mochte ich eigentlich schon immer. Schon seit Kindertagen. Ich schließe kurz meine Augen. Schon besser. Es schwankt nur noch ganz leicht. Ich stiere erneut auf das blaue Leuchten in meiner Hand. Schon wieder ein vage bekannter Freundschaftsantrag von José Grégor Julio. So ein Kussmund-Latino-Verschnitt. Wird wohl ein Fakeprofil sein. Oder ich...ich..
Ich greife mir an die taktvoll hämmernde Stirn. Fu**! Gestern! Gestern war der Abend gewesen. Stimmt. Der Abend. Da war ich doch in der Gay Bar. Wegen Bier. Wegen dem Bier. So heißt das richtig. Das Bier ist montags immer so günstig dort. Ich starre ungläubig auf das Profilbild von einem Typen, den ich schon mal gesehen habe. In der Gay Bar. Gestern. Stimmt, es war gestern. Also doch kein Fakeprofil. Ich atme meine Verwirrung heraus. Ein bisschen Selbstmitleid ist auch dabei.
Verdammt! Ach ich hätte gestern  einfach nicht etwas beschickert durch ein unschlagbares Happy-Hour-Angebot wild Patrick-Swayze-Moves zum Besten geben sollen... Mein Kopf fühlt sich an wie mit der Streitaxt gespalten. Ich setze angestrengt das Gestern-Nacht-Puzzle zusammen. Mir dämmert düster: Ich hielt diesen Joséscheißer wirklich für Enrique Iglesias und dachte wir drehen gerade sein neues Musikvideo. Schön blöd. Es wird dringend Zeit meine Eskapaden in Clubs und anrüchigen Bars zurückzufahren. Das Leben in den Griff zu kriegen. So nennt man das. Aber was heißt das? Und wie geht das? Und warum überhaupt? Mir geht's doch prima! 
Nadines Name flackert durch meine Nervenzellen und ich weiß, dass ich ein dreckiger Lügner bin. Ganz dreckig.
Mir ist schlecht. So schlecht, dass ich unkontrolliert auf den grauen Sisalteppich neben dem Bett kotze. War ohnehin von ihrer unausstehlichen Tante, huste ich freudig hinterher.
Wir konnten sie beide nicht leiden. Als ich röchelnd aufblicke, schimmert das Neon-Licht einer Reklametafel an der Schlafzimmerwand. Es tanzt umher wie wenn es nicht gefasst werden möchte. Ich drehe mich mühselig, keuchend zum Fenster. Es regnet. Es regnet ständig. Es regnet seit sie fort ist.
An der neonlichtumfassten Promo-Wand der Bushaltestelle vor meinem fleckigen Schlafzimmerfenster sehe ich ein deutlich nachlässiges Foto meiner selbst, das trotz des Loro Piana Maßanzuges, in dem ich stecke, die Glanzzeit längst hinter sich gelassen hat. Als wäre das nicht genug, wurde es mit einer thronenden und schonungslosen Headline in Rot 'Abwrackprämie gefällig?' geschmückt. Nett! Etwas geschmacklos zwar, aber nett. Darunter ein Informationstext: 'Helfen Sie diesem Arbeitslosen zurück ins Leben! Geben Sie seiner Zukunft ein Gesicht.' Mhh ausgefallene Anspielung auf mein Branchenimage.
Ehemaliges Branchenimage, korrigiere ich mich. Bin ja arbeitslos. Kein namenhafter Designer mehr. Ich kotze nochmal. Ganz ausgiebig. Diesmal auf die andere Seite des Bettes, auch wenn es da leider keinen verhassten Teppich gibt, den ich wegschmeißen möchte. War bestimmt das billige Freigetränk gestern", huste ich meine Erkenntnis heraus. Nach Currywurst sieht es zumindest nicht aus, was auf den Teppich suppt. Meine trüben Augen suchen danach erneut die Werbeanzeige und versuchen sie zu fokussieren. Einfach eines der zwei Bilder auf das andere legen. Ganz leicht.
Erneut sehe ich diesen selbstverliebten Scheißkerl im teuren Anzug, der blöd grinst. Mir dämmert, dass ich diesen Scheißkerl irgendwoher kenne. Ich kenne ihn wirklich irgendwoher. Der teure Anzug ist auf jeden Fall meiner. Darunter blinkt eine Nummer: Eine Spendennummer. Tolles Marketing, muss ich zugeben.  Sie flackert auf und verschwindet in der Dunkelheit.
Wie Nadine.
Jetzt dreht es sich wieder. Ich lasse die Augen vorsichtshalber eine Zeit lang geschlossen. Dann schaue ich genau hin: Die aufleuchtende Spendennummer treibt mir heiß die Tränen in die blutunterlaufenen Augen, welche plötzlich in Strömen über meine rissige Gesichtshaut laufen. Verdammt! Ich kenne diese Nummer. Diese Nummer kenne ich gut.
Es ist meine alte Telefonnummer, besser -unsere alte! Kann das sein?
Es gibt auch Privatsphäre ihr Höllenhunde!", schreie ich ungehalten. Niemand Spezielles im Raum fühlt sich angesprochen. Stimmt. Es ist ja keiner da.
Es tickt. Ist ja unsere Wohnung. Es tickt unregelmäßig. Ist ja meine Wohnung. Bin ich echt so blau? Das ist doch Terror! Das ist unsere Festnetznummer!", brülle ich wutentbrannt. Wenn hier einer anruft, dann zerleg ich den... Plötzlich bricht meine Stimme je ab. Da realisiere ich erst, dass ich auch kein Telefon mehr habe. Sie hat es mitgenommen. Nein! Sie wollte das Telefon mitnehmen und ich habe es wütend aus der Wandhalterung gerissen. Aha irgendwo ist also noch ein Loch in der Wand. 
Es tickt unregelmäßig.
Die Uhr hat wohl auch gelitten. Stimmt.. Nadine ist nach einigen katastrophalen Jobvermittlungsversuchen und 15 erfolglosen Vorstellungsgesprächen meinerseits dann einfach ausgezogen. Vielleicht waren es auch ein paar mehr. Sie konnte es nicht ertragen mich so zu sehen, sagte sie.
'Du hast dich -und uns- aufgegeben!'
Ja, das waren ihre Worte. Was sie damit meinte, wusste ich damals nicht. Die Uhr wusste es auch nicht als ich sie vom Nachttisch schlug.
N-A-D-I-N-E. Ein Wort. Sechs Buchstaben, die nicht reichen, um sie zu beschreiben: Natürlich, atemberaubend, direkt, intelligent, neugierig, einzigartig. Ich vermisse ihr strahlendes Gesicht beim gemeinsamen Pizza essen, das immer vor Vorfreude glühte. Wie eine Tomate. Außer ihren Grübchen auf der Wange, die blieben weiß. 'Tomato' war übrigens ihr Spitzname. Sie ist dann immer noch röter geworden, wenn man sie so nannte. Ich vermisse ihren skeptischen Hab-ichs-dir-nicht-gesagt-Blick, wenn ich mal wieder von nichts einen Hauch von Ahnung besaß. Ich höre überall ihre süße Stimme. Sie zwitschert in der Küche, schwebt durch den nun leeren Flur und kuschelt sich in mein Bett. Das Bett, das mal unser Bett war. Und lässt mich wach liegen und einsam heulen.
Ich bin auch ein Schwächling und Vollidiot!, beleidige ich mich selbst. Ach, wie gut das mal zur Abwechslung tut! 
Es tickt. Etwas unregelmäßig. 
Ich lausche. Immer nur etwas unregelmäßig. 
Jetzt merke ich es erst.
Einiges hat sie aber in unserer Wohnung dagelassen als sie...als sie...auszog. Im Bad zum Beispiel hängt noch ihr selbstgebastelter Handtuchhalter mit verziertem Wandspruch: 'Save water shower with your girlfriend'. Das war ihr Geschenk zu meinem 25. Geburtstag. Sie duschte gerne lang und heiß und vor allem: liebend gern zusammen. 4 schöne Monate gehörte ich zu diesem Zusammen, auch wenn ich sie davor schon länger kannte.
Wenn mich nun nachts mein Herz zu ersticken droht, ich im Bett wach liege und Jim Beam meine Nerven massiert, höre ich es: das Geräusch des strömenden Wassers auf ihrer hellen, weichen Haut, die nach Magnolienblüten duftet. Ich erblicke ihre hellen, braunen Haare, die tropfnass ihr rosiges Gesicht mit der kleinen, leicht schiefen Nase umschließen: ein Vorhang aus fließendem Zimt. Wissend blinzeln ihre großen, saphirblauen Augen durch den Strom aus Wassermolekülen. Ich sehe die sich freuenden Tropfen auf ihren dünnen, rosa Lippen, die nach Himbeere und Dr. Pepper Cola schmecken und...
Ich beginne schon wieder wie ein Schlosshund zu heulen. Was ist los mit dir?", kanzel ich mich selbst. Bist du ein Mann oder eine Memme? Aha. Selbstgespräche führe ich also auch schon. Ich bin ein Mann, gestehe ich mir ein, auch ohne, dass ich mir extra meiner primären Geschlechtsmerkmale versichern muss. Daraufhin ziehe ich langsam die Hand aus meiner Unterhose zurück. Auch als Mann kann man Tränen zeigen, denn auch als Mann ist man ein Mensch mit Gefühlen, versuche ich mit dieser Peinlichkeit aufzuräumen. Nur bei rosa Hoppel-Häschen und bei Katzenbabyvideos sollte man als Typ definitiv nicht flennen. Das ist nicht zu erklären und einfach unverzeihlich, mache ich mir Mut.
Das wäre jetzt ein Prost-Moment. Wenn man nur nicht übel kotzen müsste! Ich schlucke es knapp herunter. Viel war es nicht. Ganz leicht schwankt das Zimmer. Sicher ist das von diesem billigen Fusel gestern.. Nachdem ich die Augen für einige Momente schließe, geht es wieder ganz gut. Kein Brechreiz mehr. Nur ein bisschen schwankender Raum.
Nadine.
Sie mochte immer diese komisch verzerrten und am Kopf aufgepusteten Katzenfiguren. Hello Kitty hießen die. Hallo Katze! Was für ein dämliches Marketing! Aber Hello Kitty lief gut. Warum, kann ich mir nicht erklären. Sie war süchtig danach, genau wie ich nach ihrem hungrigen Blick. Ihr saphirblauer Blick. Ich habe immer noch Hunger darauf.
Ich fasse mich langsam wieder. Dann greife ich zielsicher nach der Flasche braunen Bourbon und genehmige mir einen großen Schluck.
Das Schwanken hat aufgehört. Dank Mr. Beam. Habe jetzt genau ein Fenster von einer Stunde bis ich wieder etwas brauche. Einen Muntermacher. Meistens kommt dann Jack Daniel's zu Besuch. Ich nenne es immer Jackie's Time.
Toll, wenn die Kontrolle über die eigenen Gedanken zurückkehrt.
Let's face it: sie ist weg.
Nadine ist.. weg.
Genauso wie der billige Alkohol von gestern! Ich versuche ein drittes Mal zu kotzen. Aus Gewohnheit. Oder zur Vorbeugung. Je nachdem. Es kommt aber nichts mehr. Nur etwas Galle. Aromatisiert. Ich liebe das. Im Rachen bleibt nur der samtige Geschmack von Bourbon-Vanille zurück.
Ich habe Nadine nie gesagt, dass ich sie liebe. Sie hat bestimmt darauf gewartet.
Na klar hat sie das! Sie ist eine Frau! Und es gab so schöne Momente und Anlässe zu zweit. Ein goldener Sonnenaufgang in Rom taucht hell vor meiner ahnungslosen Beschränktheit auf. Es tut weh. Lieben.
Dieses inflationär gebrauchte Wort. Sechs kleine, süße Buchstaben.
Wie Nadine.
Ich liebe dich!" Na, jetzt ist es raus! Ich bin ja mittlerweile auch der Schnulzenkönig. Geht also in Ordnung. 'Dich, dich, dich...', hallt es durchs dunkle, einsame Zimmer. War doch ganz einfach, röchle ich zur schimmligen Zimmerdecke empor. Scheiße, das muss ich mir jetzt erklären. Ehrlich gestanden: 'Ich liebe dich' sagt man oft. Doch es meint man oft nicht so. Ich habe mich schon immer davor gehütet es einer Frau zu sagen. Denn den ultimativen Liebesspruch sagt man nicht leichtfertig, man muss es auch wirklich spüren und so meinen. Bei ihr meinte ich es auch so. Sie war die einzige, bei der ich es so meinte.
Nun ist Nadine weg.
Ich brauche Whisky.
Ich brauche jetzt einfach Whisky.
Einer, der mich tröstet. Ich greife unwillkürlich nach Jim. Meine zitternde Hand umschließt die kühle Flasche und zieht sie zu mir. Dreimal atme ich tief ein, die Flasche an der Brust. Ich möchte sie kurz aufdrehen, um den Vanille-Duft zu riechen, überlege es mir aber anders und stelle sie zurück auf den Nachttisch. Unangetastet. Jackie kommt ja schon in einer Stunde. Jim hat Ruhe. Leicht schaukelt er in der Flasche auf dem Nachttisch.
Einladend.
Nadine.
Warum?
Warum bist du...?
Man realisiert erst, was man hatte, wenn man es bereits verloren hat." Als mein kehliges Bellen von der Wand zurückgeworfen wird, schnappe ich auch die Bedeutung dieses Satzes auf. Ich spüre die Worte stechend in der Brust. Stechend. Ist sicher wieder ein verkacktes Sprichwort. Es stand bestimmt auch mal auf einer Werbetafel mit einem Scheißkerl darauf. Dass so etwas auch immer stimmen muss!
Nadine ist...Nadine ist...weg
Blöder Fakt. 
Will ich sie zurück? Ja! 
Krieg ich das hin? Nein!
Also so zumindest nicht.
Ich quäle mich aus dem muffigen Bett, balanciere über sauren Mageninhalt, leere McDonalds-Tüten und halbleere Pizzaschachteln. Dann stolpere ich ungelenk über gefährlich rollende Weinflaschen und krieche dahin, wo ich das Bad vermute. Mir fällt dabei auf, dass auch der Wein alle ist.
Der gute 2012er Spätburgunder.
Es tickt. Horchend schleppe ich mich -einen Fuß in der Alditüte verfangen- ins Bad. Ich ziehe mich mühsam am stabilen Waschbecken hoch. Ich schaue in etwas, was vor 4 Monaten ein Spiegel gewesen sein muss. Es tickt. Einzelne Stücke fehlen in dem gezackten Arrangement. Die leicht verblassten Narben auf meinem Handrücken spannen sich schmerzhaft. Leichter Schwindel. Ich umfasse das Waschbecken fester. Manchmal fällt der Abschied vom alten Jim etwas schwerer...
Angst vor dem was kommt, lähmt mich. Dann trete ich -so gut es geht- vor und schaue in die Splitter, in denen ein seltsam verzerrter Mann zu sehen ist. Tom Hanks aus Cast Away starrt mich fragend an. Ohne Zweifel. Er sollte unbedingt mal Jackie kennenlernen oder Jim.
Lange betrachte ich den Fremden in meinem Spiegel, bis ich erschrecke, da Tommy Hanks so breit grinsen kann wie...ich.
Genauso wie ich?! Ich lächele wirklich. So sehr, dass mir die lange nicht benutzten Gesichtsmuskeln wehtun. Ich grinse genauso wie...früher mit Nadine; als wir uns im wackeligen Fahrstuhl ihres heruntergekommenen Studentenwohnheims das erste Mal küssten. Damals sind wir eng umschlungen bis zur Dachterrasse durchgefahren, obwohl sie in der 4. Etage eines 15-Stockers wohnte. Vielleicht sind wir auch paar Mal hoch und runter gefahren. Naja ganz schlechtes Timing jetzt daran zu denken. Mir droht fast wieder schwindlig zu werden. In meinen Kopf schleicht sich automatisch das Bild einer kühlen Whiskyflasche..
ICH bin es!", reiße ich mich mit einer mir plötzlich fremd vorkommenden Stimme ins Jetzt zurück.
I-C-H !
Diese Selbsterkenntnis ist eine feine Sache. Jetzt ein High Five mit Heraklit! Darauf greife ich mir beherzt in den Schritt. Früher habe ich das immer gemacht. Das weiß ich. Ganz klarer Prost-Moment. Immer einen Schluck getrunken, wenn es geil war. Wie damals. Mit meinen Kumpels. Ich müsste nur einmal kurz zum Nachttisch und dann wäre das kein Problem. Ich drehe den Kopf kaum merklich zur Tür. In Gedanken fühle ich das kühle Glas der Bourbonflasche. Nur ein Schluck Jim. Mehr wäre es nicht. Einfach wenige Meter zurücklaufen und kurz etwas trinken. Whisky ist auch nur Wasser. Was ist schon dabei?
Trinken. Ist wichtig. Alkohol. Ist überlebenswichtig.
Für mich.
Stimmt.
Aber Alkohol ist kein Wasser.
Das sagte auch Nadine.
Ich habe ein Problem. Ein Problem, das ich lösen muss.
Außerdem hatte ich doch erst etwas, ermahne ich mich selbst. Jetzt nichts mehr bevor Jackie kommt! Das heilige Gesetz! Mein Gesetz. Es wird nicht gebrochen, heische ich mich an.
Daraufhin meldet sich meine Säufernase nun auch endlich wieder zu Wort: irgendetwas zwischen gekochten Eiern, brauner Banane und Schweißcocktail lässt sie beleidigt rümpfen. Ich gestehe mir zögerlich ein, dass 'foul-smelling Eremitage' nicht der betörende neue Männerduft von Douglas ist. Meine dringend nötige Aromatherapie hol ich mir sogleich unter der Dusche.
Ich ziehe mich schwerfällig aus.
Ausziehen. Das hat Nadine auch gemacht.
Und das macht man so, bevor man duscht, rufe ich mir ins Gedächtnis. Nach 5 Minuten bin ich soweit und streife mir in einem grandiosen Finish noch das duftende Polo-Shirt vom Arm. Dabei reiße ich irgendetwas -dass sich wie zersplitterndes Hugo-Boss-Parfüm anhört- akrobatisch von der Anrichte herunter und taumle fokussiert zur Dusche. Ich starre in einen aufgeblasenen Katzenkopf. Ach ja, der ist auch von ihr. Also der Vorhang.
Hinter dem Duschvorhang mit Hallo-Katze-Motiv, der immer durch einen nie zu unterbindenden Luftzug an meinem nackten Arsch kleben bleibt, wartet schon wieder: sie. Nadine! Ich sehe einen Wasserfall aus Zimt. Ihre Lippen kommen näher und.. Ich drehe kaltes Wasser auf. Es ist eiskalt. Ich gebiete mir nicht zu schreien, kann aber ein Seufzen nicht unterdrücken. Ich kann kurzzeitig nicht atmen! Für einen kurzen, schmerzenden Moment wird alle Luft weggepresst. Aber langsam geht es schon wieder. Eine Zeit atme ich stoßweise in den kalten Regen vor mir. Ich sehe wie mein Atem am kalten Wasser kondensiert und in einer schwachen Wolke aufsteigt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie der erste Mensch stehe ich unter der Dusche und schaue auf das Schauspiel herabfallenden Wassers und aufsteigenden Atems. Plötzlich bekomme ich Angst.
Komm schon. Noch 45 Minuten bis Jackie kommt. Das Gesetz muss befolgt werden.
Es tickt unregelmäßig. Nein! Nur etwas unregelmäßig. Jackie's Time naht. Ja, sie naht. Schon etwas besser! Nach weiteren Minuten, die völlig neu an mir herunterfließen, beende ich ungeschickt durch gänzlich taube Glieder meine rituelle Reinigung und stehe zitternd vor meiner Absolution. Sie kommt stoßweise:
Nadine.
Ich liebe sie.
Sie ist weg.
Ich - muss - das  - akzep.. -akzeptieren!
Ich - muss - mich - wieder - hinkriegen.
Nicht mehr saufen.
Ich kann es nicht nur schaffen, ich werde es auch ertragen lernen.
Jackie muss sich heute also mal verspäten.
Das Gesetz muss gebrochen werden!
Heute!
Jetzt!
Hart tropft meine Weisheit auf das Terracotta-Muster der Badfliesen. Als ich einen nassen Schritt vortreten möchte, verliere ich plötzlich das Gleichgewicht.

Ich lausche, aber kein Ticken mehr.
Es ist still.
Kein unregelmäßiges Ticken mehr.
Unvermittelt sehe ich klar. Vollkommen klar.
Ich sehe mich -nackt, mit den Armen rudernd, im Schrecken begriffen- und weiß, was das bedeutet.
Ich kann nichts tun.
Ich sehe wie mein Kopf dumpf an das Waschbecken aus massiven Porzellan knallen wird. 
Jackie wird heute nicht kommen.
Das weiß ich.
Ich kann nur noch hoffen, dass mein Gerichtsmediziner Nadine heißt.

Dann umfängt mich endgültig tiefe Dunkelheit.
Schwarz. Kalt. Unerbittlich wie meine Albträume.