Der
Strohhalm ist grün. Nur wenn ich mich nah genug vorbeuge, um aus ihm zu
trinken, wird er blau. Genau dann, wenn die Flüssigkeit darin hochgesaugt wird.
Er steckt teilweise hinter Eis, Limetten und Minze versteckt in einem Ornament-Cocktailglas.
25 Zentimeter hoch.
In
einem fast leeren Cocktailglas. Ich schlürfe nur noch das halbgeschmolzene Eis
und etwas Rohrzucker aus dem grün-blauen Strohhalm. Der Cachaça ist schon lange verschwunden. Sanft umnebelt er meinen
ohnehin verträumten Blick. Den Blick, der gerade das Schmelzen des Eises als
unglaublich interessant einstuft. Es macht die Situation nicht besser, dass ich
dieses Schauspiel heute schon zum dritten Mal in einer Stunde verfolge.
Ich bin
Timo, 21 und angehender Wirtschaftsingenieur. Und hoffnungslos verknallt. Allerdings
nicht in den Strohhalm. Nicht das hier falsche Bilder entstehen. Auch wenn man
es meinen könnte, da er grün-blau ist. Und die Farbe eines dämlichen Strohhalms
einen eigentlich nur interessiert, wenn man nicht ganz richtig im Kopf ist.
Aber er ist nun mal grün-blau. Das hat was mit genauer Beobachtung zu tun. Mit
ganz präziser Beobachtung. Nicht mit Verrücktsein. Ich drücke meine Lage mal so
aus: Es gibt diese Wellen, die aus dem Nichts kommen und dein ganzes Leben
durcheinanderwirbeln. Meine Welle ist eine Frau. Ihr Name klingt wie sanft
schäumendes Weißwasser, das sich am hellen Strand bricht. Und sie hat mich so
durcheinandergewirbelt, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.
Wunderschön ist das. Manchmal auch beängstigend. Aber schön. So schön, dass mir
mein Herz bis zum Hals schlägt. Das Herz, das ihr schon längst verfallen ist.
Immer schon.
Während
ich das leicht süße Wasser trinke, umklammert meine eine Hand das Cocktailglas,
damit sie nicht zittert. Die andere klopft leicht auf den Holztisch oder fährt
mit der Fläche über die feine Maserung. Wenn ich das nicht selbst wäre, würde
mich das stören. Bei jedem anderen würde mich das total stören, wenn man sich
so an das Glas krallt und blöd auf dem Tisch herum klopft. Und den Gegenüber
nicht anschaut. Den Gegenüber, den ich doch unbedingt anschauen möchte! Schon
lange. Immer.
Ich
zutsche bis das saugende Geräusch von Luft zu hören ist und blicke verstohlen über
den Rand des Cocktailglases auf. Zur anderen Seite des Tisches. So weit
entfernt, aber doch so nah. Vielleicht eine Armlänge entfernt sitzt sie: Tina. Tina
ist 22 und studiert Psychologie. Und Tina ist der Grund weshalb ich einen
Cocktail nach dem nächsten trinke. Und weshalb ich weiß, dass der Strohhalm
grün-blau ist. Denn sie ist so hübsch, dass ich es nicht aushalte und fast
verrückt werde. Was mich daran hindert, ist der ahnungslose Strohhalm, den ich
aufmerksam beobachte.
Tina
sitzt da, lächelt und trinkt keusch ihren Erdbeersaft. Ich glaube zumindest,
dass man diesen Ausdruck keusch nennt. Davor hatte sie einen Pina Colada so verführerisch getrunken,
dass ich sie die ganze Zeit nur anstarrte. Das war nicht keusch! Gerade leckt
sie den Strohhalm von pürierten Erdbeeren frei. Ganz klar verführerisch. Ich
gaffe schon wieder. Ich stelle mir vor der Strohhalm zu sein. Ich bin irre
neidisch. Sie saugt den dicken Saft durch die runde Öffnung des Strohhalms. Am
Ende leckt sie ihn nur mit der Zungenspitze ab und lenkt den Erdbeerschaum
geschickt in ihren Mund. Ich glaube mich beim Starren zu ertappen. Da möchte
man einmal im Leben Strohhalm sein! Habe ich das schon gesagt? Damit ich was zu
tun habe, nehme ich meine vor Aufregung schwitzigen Finger vom nun endgültig leeren
Cocktailglas und bestelle mir hilfesuchend noch einen Caipirinha.
Ich
mache verlegen einen Virgin Caipi
daraus, weil mich die Kellnerin ganz entrüstet anschaut. Vielleicht weil sie
einen vierten alkoholischen Cocktail meinerseits für unvertretbar hält oder
weil ich gerade auf den Tisch gesabbert habe. Ich lege unauffällig die weinrote
Serviette darüber und hoffe Tina hat es nicht gesehen. Nebenbei trockne ich
meine schweißnassen Finger unbemerkt an meiner dunklen Jeans ab.
Verdammt. Ich
bin geliefert!
Muss
mir was einfallen lassen. Dringend.
Nur
ich weiß nicht wie ich den Abend überstehen soll. Wirklich nicht! Ich weiß
nicht mehr, was mich heute in der Mensa geritten hat Tina zu fragen, ob sie mit
mir abends etwas trinken gehen will. Ich habe sie auch nicht richtig gefragt.
Da kam nur wildes, unverständliches Sprudeln heraus. Wie ein Fisch, der eine
große Blase Luft herausblubbert. Sie hatte noch einmal nachgefragt und beim
zweiten Mal habe ich es dann wohl hinbekommen.
Irgendwie.
Ob
sie überrascht war, weiß ich nicht. Sie war zwar etwas rot im Gesicht, aber das
kann auch an der Sonne gelegen haben, welche durch die großen Panoramafenster der
Mensa schien. Tina überlegte kurz und willigte darauf lächelnd ein. Als sie
fragte, ob wir das Fogoso Brasil,
eine neue südamerikanische Tanzbar in der Stadt, ausprobieren könnten, war
plötzlich meine Stimme weg und ich nickte nur. Sie schlug 19:30Uhr als Uhrzeit
vor. Das ist die beste Zeit, nickte ich stumm zurück. Egal wann, es ist immer
die beste Zeit, wenn du es sagst, plauderte ich gedankenversunken mit mir
selbst.
„Toll,
dann sehen wir uns später", sprach sie begeistert, drehte sich um und flog
davon.
Ich
konnte nicht anders als abermals zu nicken. Aber da war sie schon verschwunden.
Das
war vor 7 Stunden gewesen. 7 Stunden in denen ich nicht mehr wusste, dass ich
von Hörsaal zu Hörsaal pilgerte und kaum kapierte, dass ich heute Abend mit
Tina verabredet war. Ich wurde die Stunden bis zur letzten Vorlesung nur von
meinem langjährigen Freund Rolf energisch mitgeschleift, der mich auch von dem
Fleck in der Mensa loseisen musste. Von dem Fleck, wo Tina gegangen ist. Dem
Fleck gekachelten Mensa-Fliesenboden, wo ich sie gefragt habe, ob sie mit mir
ausgehen möchte. Heute.
Rolf
und ich studieren beide Wirtschaftingenieurwesen. Oft zieht mich Rolf damit
auf, dass ich das Studentenleben mal genießen soll. Ich solle nicht bis zur
Rente warten, um mal mit einer Frau auszugehen, scherzt er oft und wird nie
müde zu betonen, dass es auch noch andere schöne Dinge im Leben gibt außer
vergilbte Bücher:
„Timo,
alte Filmspule, zu lange gewartet und die besten Plätze sind weg. Statt Loge
gibt's nur noch Klappstühle!″, war immer sein Motto. Er arbeitete mal für einen
Nebenjob als Techniker im Kino, daher hatte er diesen belebenden Spruch...
Rolf. Er muss auch keine große Angst haben! Er hat was Frauen angeht
schließlich auch keine Probleme: 1,86m, blond, blaue Augen, ist trainiert und
Wasserballer. Er ist der Terence Hill
unseres Studienganges. Er muss nur lächeln und die Frauen fallen reihenweise um,
wie Dominosteine. Man munkelt, dass er selbst mit der hübschen Junior-Professorin,
Frau Ziller, eine Affäre gehabt hatte. Aber das ist Quatsch. Mir sagte Rolf mehrfach
zu verschiedenen Anlässen, dass er völlig falsch eingeschätzt würde, dass er
ziemlich genug davon habe, dauernd als der Ashton
Kutcher des Ingenieurwesens angesehen zu werden. Er sagte in diesen
Situationen immer etwas von inneren Werten und wurde dabei ganz ernst. Eine Freundin
hatte er trotzdem irgendwie immer, auch wenn es nie wirklich lange hielt.
Dennoch
freute sich Rolf mit mir, dass ich Tina gefragt hatte. Auch wenn es keine ganz
freie Entscheidung und alleinige Tat von mir gewesen ist. Rolf war es, der mich
in der Mensa geschickt zu ihr hinstieß als ich schon wieder entmutigt die
Flocke machen wollte, sodass Tina und ich beinahe ineinander liefen. Er wusste,
dass ich in sie verknallt war. Seit dem ersten Semester. Er sieht das immer. Er
sieht das an dem Blick wie ich sie anschaue, verriet er mir mal. Tina und ich
kannten uns von den gemeinsamen Weihnachtsfeiern unserer Fakultäten.
Wobei
kannten auch zu viel wäre. Wir sahen
uns zwei Jahre da und ich stand beim Bratwurststand letzten Winter zufällig hinter
ihr und sie reichte mir den Ketchup. Ich musste dabei meine globigen Winterhandschuhe
ausziehen. Meine abgetragenen Handschuhe. Snowboardender Elch mit Sonnenbrille.
Peinlicher ging das aufgestickte Motiv gar nicht. Hätte ich mich irgendwo
unauffällig verstecken können, ich hätte es gemacht. Ohne zu zögern. Wie auch
immer. Während sie mir den Ketchup gab, berührte ich kurzzeitig ihre kleinen, kalten
Hände. Ihre Handschuhe hatte sie vergessen.
Ich
konnte schwören, dass sie die Ketchuptube extra so hielt, dass wir uns berühren
mussten. Ihre kalte, meine warme Hand. Als ich ihre weiche Haut streifte, ging ein
Zittern durch meinen ganzen Körper. Als hätte ich kurz an einen Weidenzaun gefasst.
Wir
sprachen anfangs so gut wie gar nicht. Wir lächelten beide zaghaft und ich
schaute an ihre vom Glühwein geröteten Wangen vorbei, verstohlen in ihre
braunen Augen. Zu Beginn unseres fünf Minuten-Speed-Datings redeten wir über Belangloses.
Ich versuchte irgendetwas Lustiges oder Kreatives zu sagen, doch mein Kopf war
leer.
Vollkommen
leer.
Vakuum!
Alles
was ich in der Kälte hätte sagen können, würde ihr nicht gerecht werden und
müsste sie unglaublich langweilen. Langsam kam mir das Gefühl ich würde zu
gewöhnlich, desinteressiert wirken und hätte verspielt. Verzockt am
Bratwurststand! Sozusagen zu früh All-in gegangen. Dann lenkte sie das Gespräch
geschickt zur Party und wir unterhielten uns angeregt. Ich hielt mich wirklich
ganz passabel. Wacker. Ab und zu kicherte sie. Ich hatte das Gefühl, dass sie -als
sie nochmal den Gewürzketchup von mir nahm- viel mehr Ketchup als nötig gewesen
wäre auf ihre kleine, braune Bratwurst machte. Sie bekleckerte sich etwas
ungeschickt auf zwei ihrer hellen Finger, die ich dann mit einer Serviette, die
ich vom Tresen fischte, säuberte. Woher diese galante Eingebung kam, weiß ich
nicht. Heute noch nicht. Wahrscheinlich wollte ich mich irgendwo festhalten, um
vor so viel Schönheit nicht umzufallen und dabei griff ich unvorhergesehen in
den Serviettenspender der studentischen Bratwurstgastronomie. Dann kamen aus
heiterem Himmel ihre Freundinnen angeschwärmt und nahmen sie in Beschlag. Wie
Aasgeier, die auf ihre Beute herfallen, umschwärmten sie Tina. Sie hauchte im
Gehen noch kurz „Danke″ und verschwand im Ring ihrer Freundinnen. Sie
verschluckten sie wie ein schwarzes Loch, das Materie und Licht einsaugt.
Plötzlich
-ohne Tina- war die Feier ganz dunkel.
Ich schloss
kurz die Augen, in der Hoffnung dass beim Öffnen das Licht wieder an sein würde.
Aber es blieb dunkel, denn Tina leuchtete woanders.
Einige
Momente stand ich noch etwas verloren vorm Bratwurstzelt. Dann bestellte ich
gedankenversunken noch eine zweite Bratwurst. Mit Tina in meinem Kopf sinnierte
ich über Raum-Zeit-Verformung ausreichend kompakter Massen. Ich nahm meine
Wurst entgegen, bezahlte für drei und schlurfte zu meinen Ingenieuren zurück. Mir
war kein bisschen kalt. Trotzdem war etwas anders. Ich merkte auf halbem Weg,
dass ich keine Handschuhe mehr hatte.
Da
erst fiel es mir wieder ein! Meine unzeitgemäßen Fäustlinge hatte ich Tina mitgegeben.
Sie fand das Motiv toll.
Snowboardender
Elch mit Sonnenbrille.
Der
Elch ist nämlich ihr Lieblingstier. Und ich dachte es wäre peinlich! Ich
grinste breit in die von Gesprächen geschwängerte Dunkelheit als ich an Tinas
glücklichen Gesichtsausdruck zurückdenken musste. Insgeheim dankte ich Gott
oder irgendwen da oben für diese zweite geile, gelungene Aktion der
partnerschaftlichen Annäherung. Noch halb im Trance erreichte ich dann meine
Ingenieure und nagte verträumt an meiner Bratwurst.
Den
ganzen Abend lang vertieften wir uns dann in Diskussionen zur Elektrotechnik
und fachsimpelten über Maxwell-Gleichungen mit Differentialformen. Soviel zum
Thema anderes Geschlecht kennenlernen: Die Nerds im geheimen Zirkel ihrer
Nerdigkeit!
Rolf
war den Abend über beim Punschzelt aktiv und half beim Glühbierausschank aus
-umringt von angeheiterten Psychologie-Studentinnen, die über seine immer wirklich
guten Witze lachten. Die Wirtschaftsingenieure feierten jedes Jahr gemeinsam
mit den Psychologinnen Weihnachtsfeier. Eine gelungene Leistung der zwei
Fachschaftsräte. Das fanden viele. Besonders die Wirtschaftingenieure
männlicher Natur. In Insiderkreisen (also die Nerdkreise) wurde es immer nur
PB, die Partnerbörse, genannt. Einige
nannten es auch nur: die Tankstelle.
Denn es gab Glühwein und Alkoholisches bis zum Abwinken. Für viele männliche
Ingenieure war es darüber hinaus der einzige Lichtblick im gesamten Studienjahr
und auch die einzige Chance eine Frau mal wirklich von Nahen zu begutachten,
ohne den Kopf zu verlieren. Auch wenn viele hoffnungslos mit der Situation
überfordert schienen so viel geballte Frauenpräsenz überhaupt zu sehen.
Bestimmt machten sich die Damen auch darüber lustig und einen Spaß. Oder sie
probierten psychologische Kurzzeit-Studien mit uns aus und nutzten uns als
Probanden für ihr neurologisches Hexenwerk. Man sagt ja immer, dass
Psychologinnen sich selbst therapieren, indem sie andere auf die Couch ziehen. Aber
uns war das egal. Wir wollten liebend gern von ihnen therapiert werden.
Wie
dem auch sei, sozialer Umgang ist eben für viele von uns schwierig. Da hätte es
in unserer Studienordnung mal ein Aufbauseminar oder Vertiefungsmodul dazu
geben sollen: 'Baggern und Flirten für
sozial introvertierte Intelligenzbolzen der Wirtschaftswissenschaften'
würde sicher den Teilnehmerrekord brechen. Im Geheimen -was unsere Realität
ist- wartet nämlich jeder von uns darauf, einmal in eine Big-Bang-Theory-Wohngemeinschaft hineinzurutschen. Also die von der
US-amerikanischen Fernsehserie mit den Physiknerds. Wie das gehen soll, weiß
auch keiner, da wir fast alle noch daheim wohnen. Aber lustig wäre es schon. Wir
haben auch einen im Studiengang, der wie Sheldon
Cooper ist. Urkomisch. Selbst ich musste oft darüber lachen wie kompatibel
diese zwei Typen sind.
Ich
gestehe mir aber ein, dass auch ich bei Frauen -wenn es darauf ankommen würde-
kläglich scheitern würde. Da mache ich mir kein X vors U. Ich wäre vielleicht
noch schlimmer dran als unser WiWi-Sheldon,
da ich eine konkrete Vorstellung von Liebe und Frauen besitze, über die ich
weiß und die ich auch erfüllt sehen möchte. Auch wenn ich nicht weiß wie das
jemals funktionieren soll! Manchmal frage ich mich dann, wem von den Big-Bang-Serientypen ich eher
entspreche. Ich bin wohl eine Kombination aus Lennart Hofstadter und Rajesh
Koothrappali: auch ich suche eine feste Beziehung zu einer Frau, bekomme
aber nur betrunken den Mund auf. Abgesehen davon bin ich weder hochbegabt noch
indischer Abstammung. Was aber allen WiWis unserer Fakultät gleich ist: insgeheim
wartet jeder von uns auf seine Penny.
Außer vielleicht Rolf. Er hatte schon etliche Frauen und eine hieß meiner
Meinung nach sogar Penny. Egal. Ich weiß wie meine Penny heißt. Meine Penny heißt
Tina.
An
diesem Abend der Weihnachtsfeier, nach dem Ketchup-Intermezzo, sah ich Tina jedenfalls
nicht noch einmal wieder. Leider. Auch die Tage danach sah ich sie nicht,
sodass ich ihr kein schönes Weihnachtsfest wünschen konnte. Ich wollte ihr
sogar einen geschnitzten Serviettenhalter in Herzform schenken.
Serviettenhalter wegen der Sache mit dem Ketchup. Auch so eine peinliche Sache.
Doch daraus wurde nichts. Zum Glück? Zufall? Ach, wer weiß das schon?
Wenn
wir uns im neuen Jahr sahen, dann nur kurz und wir waren nie wieder so nah
beieinander wie bei der Weihnachtsfeier. Wir sahen uns nur zufällig auf dem Weg
zu unterschiedlichen Hörsälen auf dem Campusgelände. Ich fand sie immer. Mein Tina-Blick
erspähte sie immer. Er war auf Psychologinnen eingestellt, von denen sie giggelnd
umringt war. Sie lächelte zaghaft im Vorbeigehen. Dann lief ich immer etwas zu
gerade und wippte mit den Fußballen. Im Nachhinein musste dieses Herumgewippe sehr
blöd ausgesehen haben, sodass ich es schnell sein ließ. Das ging mehrere schöne
Wochen so. Wir sahen uns an und lächelten. Mehr nicht. Wir sahen uns und
lächelten breit.
Einige
Wochen später schaute sie -wenn wir uns sahen- nur überrascht auf und lächelte
etwas gequält, fast schon entschuldigend. So machte es den Eindruck auf mich. Mehrmals
sah ich sie in dieser Zeit auch in Begleitung eines großen Studenten mit kurzen,
roten Haaren, der so selbstverständlich den Arm um sie legte, dass es meinem
Herzen einen tiefen Stich gab. Wie ein Messer, das fein säuberlich in einen
weichen Butterblock schneidet.
Ich
verfiel wieder in alte Muster. Ich stürzte mich Hals über Kopf in Studienkram
und wusste, dass ich sie verloren hatte. Dabei hatte ich sie ja nicht einmal! Nachts
lag ich lange wach und dachte an sie. Ich dachte auch früh am Morgen an sie,
wenn ich nicht mehr schlafen konnte. Vielleicht konnte ich auch wegen Tina
nicht mehr schlafen. Doch dachte ich an Tina, dachte ich auch an den
rothaarigen Holzkopf. Diesen gelackten Affen, dem ich gerne eine rein gehauen
hätte. Nur ich hätte es bestimmt nicht hinbekommen. Dann hätte ich aber auch
gleich mir eine mitgeben können, dicht gefolgt von meiner sozialen Inkompetenz,
meiner Blindheit.
Tina
ist eine klare 1. Und eine 1 kann man nicht... nein, keine Frau kann man nur durch Lächeln und nett Vorbeilaufen für sich
gewinnen. Der rothaarige Affe wusste es. Rolf, der alte Frauenversteher, wusste
das auch. Nach einem Seminar über Wellenoptik letztes Jahr wurde mir das rückblickend
bewusst. Da sagte er mal aus heiterem Himmel und erschreckend ernsthaft: „Liebe
ist wie eine Welle: Du musst immer paddeln, um auf ihr surfen zu können. Wenn
du dich nur treiben lässt, bricht sie über dich herein oder du verpasst
sie." Erst mehrere Minuten nach diesem Spruch mussten vergehen, dass er
wieder lachte. Warum Rolf nicht in der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für
Praktische Philosophie begleitet, verstand ich nicht. Er hatte absolut recht
damit! Ich hatte es verpasst Initiative zu zeigen. Ich habe Tina gehen lassen.
Ich habe sie gehen lassen in die Arme dieses Rotschopfs. Dass es da immer einen
Zeitplan geben muss, wann man den nächsten Schritt unternehmen soll! Wer sagt
einen denn so etwas? Nach dem Ketchup hätte das Date kommen müssen! Alles
locker und spontan, aber natürlich gut vorbereitet. Die Konvention der Liebe
verlangt es. Ein Date. Ganz klassisch. Ich Spätzünder hatte es vor lauter Tina
nicht geschnallt! Ich hätte sie daten müssen. Müssen!
Danach
tat ich mehr. Also im Rahmen meiner introvertierten Möglichkeiten. Denn ich bin
Timo. Und Timo ist immer noch Wirtschaftsingenieur mit nerdiger Veranlagung.
Ganz leicht zumindest. Glücklicherweise verbesserte es sich. Maßgebend erst mit
heute! O Gott, heute! Wie gesagt auch ein wenig durch Rolf, als er mich zu Tina
schubste und ziemlich unschuldig dabei tat. Am 02. April war das. In der Mensa
der Uni, deren Fußboden mit vielen grauen Fliesen gekachelt war.
Nun ist
immer noch der 02. April. Es ist 20:30Uhr. Unser Date läuft. Im Fogoso Brasil. Tina und ich sitzen uns
gegenüber und ich starre meinen gerade grünen Strohhalm an, um nicht Tina
anschauen zu müssen, der ich hoffnungslos verfallen bin. Alkohol habe ich
eindeutig genug, das weiß ich auch ohne die besorgte Kellnerin. Aber dennoch
habe ich eine Blockade. Ich habe mich so sehr darauf vorbereitet überhaupt Tinas
Aufmerksamkeit zu erregen, dass ich nun, da ich sie wundersamerweise habe,
komplett kopflos bin. Die 7 Stunden vor unserem Date war ich ein Schrotthaufen.
Jetzt hier am Tisch in der Bar das Leiden Christi persönlich. Ich hätte Rolf noch
fragen sollen, was man beim ersten Date beachten muss und macht.
Ich
bin so ein Versager! Ich werde es verspielen. Auf ganzer Linie verzocken. Nichts
mit Wellenreiten. Die Welle wird unter mir durchrollen. Ich werde sie
verpassen. So wie Rolf es mal bei einem Seminar für Wellenoptik ernüchternd
feststellte. Rolf! Rolf! Rolff!!! Ich schmiss fast mein Cocktailglas um. Das
ist es! Ich zog gedankenversunken eine Ladung Virgin Caipi vom nun
wieder blauen Strohhalm. Ohne Cachaça
schmeckte er richtig gut. Richtig
gut. Wie Hoffnung. Er schmeckte stark nach Hoffnung.
Rolfs
letzte Bemerkung vor meinem Date kam mir nämlich in den Sinn. Zwischen Cocktailglas
und Tischkante schwebten seine Worte prophetisch in der süßen Luft von Fogoso Brasil:
„Hör
mal zu, du Weichkäse! Du bist Wirtschaftsingenieur! Du hast schon ganz andere
Sachen zum Laufen gebracht. Du bist ein Nerd? Und wenn schon! Na und? Wen juckt
das! Wenn sie mit dir ausgeht, dann scheint sie sich für dich zu interessieren.
Also mach dir mal keine Gedanken. Lass es doch einfach auf dich zukommen. Zeige
ihr, dass du dich auch für sie interessierst und kipp dich nicht weg...Oder
kipp ihr doch mal Ketchup drüber!"
Als
er meinen panischen, totenbleichen Gesichtsausdruck sah, fügte er lachend
hinzu: „Man Timo! Soll ich dir ein In-Ear-Headset mitgeben und dir alles
zuflüstern? Dann geb ich dir aber auch meine Handynummer durch, die du dann Tina
gibst. Okay?", scherzte er. Da wusste ich, dass er mir das ohne Zweifel
zutraute und ich nichts zu verlieren hatte außer meiner Schüchternheit.
Es
wird nun Zeit von Rajesh Koothrappali zu
Lennart Hofstadter zu wechseln. Jetzt
kommt der Big Bang! Vorbei mit
Theorie! Penny ich komme! Ich überließ den grün-blauen Strohhalm sich selbst
und suchte ihre braunen Augen. Tinas braune Augen.
Ich
hob entschlossen meinen Blick über den Rand meines Cocktailglases hinaus und versuchte
Tina zu fixieren. Ihre Augen waren wie Sterne. In ihnen steckte ein Licht von
Wirklichkeit. Sie waren eingefasst von kleinen, warmen Fältchen um ihre
Augenwinkel. Wundervoll. Es dauerte etwas, bis sie es mitbekam, dass ich sie
anschaute. Sie fuhr gedankenverloren mit dem Finger um den Rand ihres Glases,
das noch ganz wenig Erdbeersaft enthielt, bevor sie meinen Blick eher zufällig bemerkte.
Als sie überrascht zu mir aufblickte, lächelte sie etwas gequält, fast schon
entschuldigend.
Ich
kannte diesen Ausdruck.
Ich
wusste, dass dies meine letzte Chance war.
Ich
begriff plötzlich, dass Tina in diese neue Tanzbar wollte. In diese Tanzbar, in
der wir gerade sitzen.
Wir.
Sie
wollte in diese neue Tanzbar, weil sie sicher auch interessiert ist hier zu
tanzen!
Und
das mit mir.
Ich
kann nicht tanzen, aber jetzt ist keine Zeit für Ausflüchte. Mir ist egal, ob
ich mich blamiere. Wenn ich mit jemanden tanzen will, dann ist es Tina.
Ich
ließ sie nicht aus den Augen und sagte ruhig und sicher, so sicher wie ich noch
nie etwas von mir gegeben habe: „Tina, möchtest du mit mir tanzen?"
Am
nächten Morgen war ich spät dran. Zu spät. Und das auch noch bei Professor Euler.
Er gibt Betriebswirtschaft. Der merkt sich das. Ich bin noch nie zu spät
gekommen. Meine 4,0 in der nächsten Klausur kann ich wohl vergessen. Einmal zu
spät kommen, reicht bei Euler schon. Pünktlichkeit ist eine Tugend und eine
Selbstverständlichkeit, wird er nie müde zu betonen und tadelt stets diejenigen,
welche den Beginn seiner Lesung versäumen. Der Grund für die Verspätung ist ihm
immer egal. Man kann ja eher aufstehen. So seine Devise. Was für ein Idiot! Aber
ich schaffte es noch. Gerade so pünktlich, sagte mir ein Blick auf meine Uhr. Kurz
vor Beginn der Betriebswirtschaftslehre-Lesung am Eingang zum Hörsaal zog mich ein
besorgter Rolf beiseite: „Mensch, Timo! Ich dachte du hast dich umgebracht!
Man, wie lief's? Dein Date meine ich. Hat das mit dem Ketchup
funktioniert?", scherzte er munter. Ich kam nicht dazu zu antworten, da
plötzlich jemand um die Ecke in den Gang zum Hörsaal bog. Zum Hörsaal der
Wirtschaftsingenieurwissenschaft. Unser Hörsaal.
Prof.
Euler war es nicht. Er kam wohl auch zu spät. Das kann es gar nicht geben!
Ich
erkannte sie an ihren schnellen Schritten, bevor ich später ihre blonden Haare
und die braunen Augen sah.
Es
war Tina.
Da
gleißendes Sonnenlicht durch den fensterumsäumten Gang brach, konnte ich ihren
Ausdruck nicht deuten. Dann stand sie plötzlich vor mir. Meine Penny. Tina.
O,
Gott! Sie stand vor mir und ich grinste blöd. Warum grinse ich immer blöd?
„Hallo
Timo. Klasse dich zu sehen. Es war total lustig gestern. Willst du mit mir
einen Tanzkurs machen? Ich musste dich das fragen", keuchte sie außer Atem.
„Gleich sind die Einschreibungen für die Kurse. Und ich habe doch deine Nummer
nicht." Daraufhin steckte sie mir einen Zettel mit ihrer Nummer und ihrem
Namen in schön geschwungener Handschrift entgegen, den ich verdutzt nahm. „Es
hat mir richtig Spaß gemacht. Du warst großartig, Timo. Tut mir Leid, dass ich
dir ein paar Mal auf die Füße getreten bin. Manchmal bin ich ganz schön
schusselig", sprach sie verlegen und wurde feuerrot.
Ich
weiß nicht mehr, was ich antwortete, aber es muss wohl das Richtige gewesen
sein.
Tinas
Augen lachten hell. Dann küsste sie mich auf den Mund und verschwand elfengleich
im Sonnenlicht. Mir war als würde ich den stärksten Weidenzaun der Welt
anfassen. Geistesabwesend leckte ich meine Lippen ab und schmeckte Kirsche.
Ganz klar Kirsche. Wie Kirschgeschmack und ein Weidenzaun in Beziehung stehen,
wusste ich mir nicht zu erklären. Ich war zurück im Fogoso Brasil und mein Herz tanzte freudig. Im Gleichklang mit
ihrem.
„Ach
wie schön, dass ich nun nicht mehr bis zur Rente warten muss und in Frieden
abtreten kann...", kommentierte Rolf von weit her, der sich vor Grinsen
kaum einkriegte. Er lag halb auf dem Boden. Erst als er Witze über Timo, den tierisch-tollen
Tanzbären, machte, holte er mich zurück in die Gegenwart. Ich wusste nicht, ob
ich lachen oder weinen sollte. Als Euler plötzlich zügig und schwitzend den
Gang entlangkam, seine Aktentasche baumelte gefährlich im Takt seiner schnellen
Schritte, zog Rolf mich Paralysierten feixend und auf die Schulter klopfend in
den Hörsaal. Als wir zwei uns auf unsere angestammten Plätze in der vorletzten
Reihe schlichen, entschuldigte sich Euler bereits demütig und flehentlich bei
seinen Studenten, die das Schauspiel zu genießen schienen und ihn mit finsterer
Miene anschauten. Sie machten es ihm nicht leicht. Sie dachten nicht daran.
Ehrlich
gesagt, bekam ich davon aber nicht viel mit. Das Einzige, was ich wirklich zum
ersten Mal mitbekam, war, wie schön doch dieser Hörsaal war.
Die alten,
bekritzelten Nussbaumtische. So braun wie Tinas Augen.
Die
sonnenbeschiene beige Wand. Genau die Farbe ihrer Haare.
Dieser
Hörsaal ist schön!
Er
hat mein Herz gestohlen.
Ich
umklammerte fest den Zettel.
Den
Zettel mit Tinas Nummer und ihrem Namen in schön geschwungener Handschrift.
In der Luft lag ganz viel Möglichkeit.
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