Dienstag, 14. Februar 2017

Mein Date mit dem Cocktailglas



Der Strohhalm ist grün. Nur wenn ich mich nah genug vorbeuge, um aus ihm zu trinken, wird er blau. Genau dann, wenn die Flüssigkeit darin hochgesaugt wird. Er steckt teilweise hinter Eis, Limetten und Minze versteckt in einem Ornament-Cocktailglas. 25 Zentimeter hoch.
In einem fast leeren Cocktailglas. Ich schlürfe nur noch das halbgeschmolzene Eis und etwas Rohrzucker aus dem grün-blauen Strohhalm. Der Cachaça ist schon lange verschwunden. Sanft umnebelt er meinen ohnehin verträumten Blick. Den Blick, der gerade das Schmelzen des Eises als unglaublich interessant einstuft. Es macht die Situation nicht besser, dass ich dieses Schauspiel heute schon zum dritten Mal in einer Stunde verfolge.
Ich bin Timo, 21 und angehender Wirtschaftsingenieur. Und hoffnungslos verknallt. Allerdings nicht in den Strohhalm. Nicht das hier falsche Bilder entstehen. Auch wenn man es meinen könnte, da er grün-blau ist. Und die Farbe eines dämlichen Strohhalms einen eigentlich nur interessiert, wenn man nicht ganz richtig im Kopf ist. Aber er ist nun mal grün-blau. Das hat was mit genauer Beobachtung zu tun. Mit ganz präziser Beobachtung. Nicht mit Verrücktsein. Ich drücke meine Lage mal so aus: Es gibt diese Wellen, die aus dem Nichts kommen und dein ganzes Leben durcheinanderwirbeln. Meine Welle ist eine Frau. Ihr Name klingt wie sanft schäumendes Weißwasser, das sich am hellen Strand bricht. Und sie hat mich so durcheinandergewirbelt, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Wunderschön ist das. Manchmal auch beängstigend. Aber schön. So schön, dass mir mein Herz bis zum Hals schlägt. Das Herz, das ihr schon längst verfallen ist. Immer schon.
Während ich das leicht süße Wasser trinke, umklammert meine eine Hand das Cocktailglas, damit sie nicht zittert. Die andere klopft leicht auf den Holztisch oder fährt mit der Fläche über die feine Maserung. Wenn ich das nicht selbst wäre, würde mich das stören. Bei jedem anderen würde mich das total stören, wenn man sich so an das Glas krallt und blöd auf dem Tisch herum klopft. Und den Gegenüber nicht anschaut. Den Gegenüber, den ich doch unbedingt anschauen möchte! Schon lange. Immer.
Ich zutsche bis das saugende Geräusch von Luft zu hören ist und blicke verstohlen über den Rand des Cocktailglases auf. Zur anderen Seite des Tisches. So weit entfernt, aber doch so nah. Vielleicht eine Armlänge entfernt sitzt sie: Tina. Tina ist 22 und studiert Psychologie. Und Tina ist der Grund weshalb ich einen Cocktail nach dem nächsten trinke. Und weshalb ich weiß, dass der Strohhalm grün-blau ist. Denn sie ist so hübsch, dass ich es nicht aushalte und fast verrückt werde. Was mich daran hindert, ist der ahnungslose Strohhalm, den ich aufmerksam beobachte.
Tina sitzt da, lächelt und trinkt keusch ihren Erdbeersaft. Ich glaube zumindest, dass man diesen Ausdruck keusch nennt. Davor hatte sie einen Pina Colada so verführerisch getrunken, dass ich sie die ganze Zeit nur anstarrte. Das war nicht keusch! Gerade leckt sie den Strohhalm von pürierten Erdbeeren frei. Ganz klar verführerisch. Ich gaffe schon wieder. Ich stelle mir vor der Strohhalm zu sein. Ich bin irre neidisch. Sie saugt den dicken Saft durch die runde Öffnung des Strohhalms. Am Ende leckt sie ihn nur mit der Zungenspitze ab und lenkt den Erdbeerschaum geschickt in ihren Mund. Ich glaube mich beim Starren zu ertappen. Da möchte man einmal im Leben Strohhalm sein! Habe ich das schon gesagt? Damit ich was zu tun habe, nehme ich meine vor Aufregung schwitzigen Finger vom nun endgültig leeren Cocktailglas und bestelle mir hilfesuchend noch einen Caipirinha.
Ich mache verlegen einen Virgin Caipi daraus, weil mich die Kellnerin ganz entrüstet anschaut. Vielleicht weil sie einen vierten alkoholischen Cocktail meinerseits für unvertretbar hält oder weil ich gerade auf den Tisch gesabbert habe. Ich lege unauffällig die weinrote Serviette darüber und hoffe Tina hat es nicht gesehen. Nebenbei trockne ich meine schweißnassen Finger unbemerkt an meiner dunklen Jeans ab.
Verdammt. Ich bin geliefert!
Muss mir was einfallen lassen. Dringend.
Nur ich weiß nicht wie ich den Abend überstehen soll. Wirklich nicht! Ich weiß nicht mehr, was mich heute in der Mensa geritten hat Tina zu fragen, ob sie mit mir abends etwas trinken gehen will. Ich habe sie auch nicht richtig gefragt. Da kam nur wildes, unverständliches Sprudeln heraus. Wie ein Fisch, der eine große Blase Luft herausblubbert. Sie hatte noch einmal nachgefragt und beim zweiten Mal habe ich es dann wohl hinbekommen.
Irgendwie.
Ob sie überrascht war, weiß ich nicht. Sie war zwar etwas rot im Gesicht, aber das kann auch an der Sonne gelegen haben, welche durch die großen Panoramafenster der Mensa schien. Tina überlegte kurz und willigte darauf lächelnd ein. Als sie fragte, ob wir das Fogoso Brasil, eine neue südamerikanische Tanzbar in der Stadt, ausprobieren könnten, war plötzlich meine Stimme weg und ich nickte nur. Sie schlug 19:30Uhr als Uhrzeit vor. Das ist die beste Zeit, nickte ich stumm zurück. Egal wann, es ist immer die beste Zeit, wenn du es sagst, plauderte ich gedankenversunken mit mir selbst.
„Toll, dann sehen wir uns später", sprach sie begeistert, drehte sich um und flog davon.
Ich konnte nicht anders als abermals zu nicken. Aber da war sie schon verschwunden.
Das war vor 7 Stunden gewesen. 7 Stunden in denen ich nicht mehr wusste, dass ich von Hörsaal zu Hörsaal pilgerte und kaum kapierte, dass ich heute Abend mit Tina verabredet war. Ich wurde die Stunden bis zur letzten Vorlesung nur von meinem langjährigen Freund Rolf energisch mitgeschleift, der mich auch von dem Fleck in der Mensa loseisen musste. Von dem Fleck, wo Tina gegangen ist. Dem Fleck gekachelten Mensa-Fliesenboden, wo ich sie gefragt habe, ob sie mit mir ausgehen möchte. Heute.
Rolf und ich studieren beide Wirtschaftingenieurwesen. Oft zieht mich Rolf damit auf, dass ich das Studentenleben mal genießen soll. Ich solle nicht bis zur Rente warten, um mal mit einer Frau auszugehen, scherzt er oft und wird nie müde zu betonen, dass es auch noch andere schöne Dinge im Leben gibt außer vergilbte Bücher:
„Timo, alte Filmspule, zu lange gewartet und die besten Plätze sind weg. Statt Loge gibt's nur noch Klappstühle!″, war immer sein Motto. Er arbeitete mal für einen Nebenjob als Techniker im Kino, daher hatte er diesen belebenden Spruch... Rolf. Er muss auch keine große Angst haben! Er hat was Frauen angeht schließlich auch keine Probleme: 1,86m, blond, blaue Augen, ist trainiert und Wasserballer. Er ist der Terence Hill unseres Studienganges. Er muss nur lächeln und die Frauen fallen reihenweise um, wie Dominosteine. Man munkelt, dass er selbst mit der hübschen Junior-Professorin, Frau Ziller, eine Affäre gehabt hatte. Aber das ist Quatsch. Mir sagte Rolf mehrfach zu verschiedenen Anlässen, dass er völlig falsch eingeschätzt würde, dass er ziemlich genug davon habe, dauernd als der Ashton Kutcher des Ingenieurwesens angesehen zu werden. Er sagte in diesen Situationen immer etwas von inneren Werten und wurde dabei ganz ernst. Eine Freundin hatte er trotzdem irgendwie immer, auch wenn es nie wirklich lange hielt.
Dennoch freute sich Rolf mit mir, dass ich Tina gefragt hatte. Auch wenn es keine ganz freie Entscheidung und alleinige Tat von mir gewesen ist. Rolf war es, der mich in der Mensa geschickt zu ihr hinstieß als ich schon wieder entmutigt die Flocke machen wollte, sodass Tina und ich beinahe ineinander liefen. Er wusste, dass ich in sie verknallt war. Seit dem ersten Semester. Er sieht das immer. Er sieht das an dem Blick wie ich sie anschaue, verriet er mir mal. Tina und ich kannten uns von den gemeinsamen Weihnachtsfeiern unserer Fakultäten.
Wobei kannten auch zu viel wäre. Wir sahen uns zwei Jahre da und ich stand beim Bratwurststand letzten Winter zufällig hinter ihr und sie reichte mir den Ketchup. Ich musste dabei meine globigen Winterhandschuhe ausziehen. Meine abgetragenen Handschuhe. Snowboardender Elch mit Sonnenbrille. Peinlicher ging das aufgestickte Motiv gar nicht. Hätte ich mich irgendwo unauffällig verstecken können, ich hätte es gemacht. Ohne zu zögern. Wie auch immer. Während sie mir den Ketchup gab, berührte ich kurzzeitig ihre kleinen, kalten Hände. Ihre Handschuhe hatte sie vergessen.
Ich konnte schwören, dass sie die Ketchuptube extra so hielt, dass wir uns berühren mussten. Ihre kalte, meine warme Hand.  Als ich ihre weiche Haut streifte, ging ein Zittern durch meinen ganzen Körper. Als hätte ich kurz an einen Weidenzaun gefasst.
Wir sprachen anfangs so gut wie gar nicht. Wir lächelten beide zaghaft und ich schaute an ihre vom Glühwein geröteten Wangen vorbei, verstohlen in ihre braunen Augen. Zu Beginn unseres fünf Minuten-Speed-Datings redeten wir über Belangloses. Ich versuchte irgendetwas Lustiges oder Kreatives zu sagen, doch mein Kopf war leer.
Vollkommen leer.
Vakuum!
Alles was ich in der Kälte hätte sagen können, würde ihr nicht gerecht werden und müsste sie unglaublich langweilen. Langsam kam mir das Gefühl ich würde zu gewöhnlich, desinteressiert wirken und hätte verspielt. Verzockt am Bratwurststand! Sozusagen zu früh All-in gegangen. Dann lenkte sie das Gespräch geschickt zur Party und wir unterhielten uns angeregt. Ich hielt mich wirklich ganz passabel. Wacker. Ab und zu kicherte sie. Ich hatte das Gefühl, dass sie -als sie nochmal den Gewürzketchup von mir nahm- viel mehr Ketchup als nötig gewesen wäre auf ihre kleine, braune Bratwurst machte. Sie bekleckerte sich etwas ungeschickt auf zwei ihrer hellen Finger, die ich dann mit einer Serviette, die ich vom Tresen fischte, säuberte. Woher diese galante Eingebung kam, weiß ich nicht. Heute noch nicht. Wahrscheinlich wollte ich mich irgendwo festhalten, um vor so viel Schönheit nicht umzufallen und dabei griff ich unvorhergesehen in den Serviettenspender der studentischen Bratwurstgastronomie. Dann kamen aus heiterem Himmel ihre Freundinnen angeschwärmt und nahmen sie in Beschlag. Wie Aasgeier, die auf ihre Beute herfallen, umschwärmten sie Tina. Sie hauchte im Gehen noch kurz „Danke″ und verschwand im Ring ihrer Freundinnen. Sie verschluckten sie wie ein schwarzes Loch, das Materie und Licht einsaugt.
Plötzlich -ohne Tina- war die Feier ganz dunkel.
Ich schloss kurz die Augen, in der Hoffnung dass beim Öffnen das Licht wieder an sein würde. Aber es blieb dunkel, denn Tina leuchtete woanders.
Einige Momente stand ich noch etwas verloren vorm Bratwurstzelt. Dann bestellte ich gedankenversunken noch eine zweite Bratwurst. Mit Tina in meinem Kopf sinnierte ich über Raum-Zeit-Verformung ausreichend kompakter Massen. Ich nahm meine Wurst entgegen, bezahlte für drei und schlurfte zu meinen Ingenieuren zurück. Mir war kein bisschen kalt. Trotzdem war etwas anders. Ich merkte auf halbem Weg, dass ich keine Handschuhe mehr hatte.
Da erst fiel es mir wieder ein! Meine unzeitgemäßen Fäustlinge hatte ich Tina mitgegeben. Sie fand das Motiv toll.
Snowboardender Elch mit Sonnenbrille.
Der Elch ist nämlich ihr Lieblingstier. Und ich dachte es wäre peinlich! Ich grinste breit in die von Gesprächen geschwängerte Dunkelheit als ich an Tinas glücklichen Gesichtsausdruck zurückdenken musste. Insgeheim dankte ich Gott oder irgendwen da oben für diese zweite geile, gelungene Aktion der partnerschaftlichen Annäherung. Noch halb im Trance erreichte ich dann meine Ingenieure und nagte verträumt an meiner Bratwurst.
Den ganzen Abend lang vertieften wir uns dann in Diskussionen zur Elektrotechnik und fachsimpelten über Maxwell-Gleichungen mit Differentialformen. Soviel zum Thema anderes Geschlecht kennenlernen: Die Nerds im geheimen Zirkel ihrer Nerdigkeit!
Rolf war den Abend über beim Punschzelt aktiv und half beim Glühbierausschank aus -umringt von angeheiterten Psychologie-Studentinnen, die über seine immer wirklich guten Witze lachten. Die Wirtschaftsingenieure feierten jedes Jahr gemeinsam mit den Psychologinnen Weihnachtsfeier. Eine gelungene Leistung der zwei Fachschaftsräte. Das fanden viele. Besonders die Wirtschaftingenieure männlicher Natur. In Insiderkreisen (also die Nerdkreise) wurde es immer nur PB, die Partnerbörse, genannt. Einige nannten es auch nur: die Tankstelle. Denn es gab Glühwein und Alkoholisches bis zum Abwinken. Für viele männliche Ingenieure war es darüber hinaus der einzige Lichtblick im gesamten Studienjahr und auch die einzige Chance eine Frau mal wirklich von Nahen zu begutachten, ohne den Kopf zu verlieren. Auch wenn viele hoffnungslos mit der Situation überfordert schienen so viel geballte Frauenpräsenz überhaupt zu sehen. Bestimmt machten sich die Damen auch darüber lustig und einen Spaß. Oder sie probierten psychologische Kurzzeit-Studien mit uns aus und nutzten uns als Probanden für ihr neurologisches Hexenwerk. Man sagt ja immer, dass Psychologinnen sich selbst therapieren, indem sie andere auf die Couch ziehen. Aber uns war das egal. Wir wollten liebend gern von ihnen therapiert werden.
Wie dem auch sei, sozialer Umgang ist eben für viele von uns schwierig. Da hätte es in unserer Studienordnung mal ein Aufbauseminar oder Vertiefungsmodul dazu geben sollen: 'Baggern und Flirten für sozial introvertierte Intelligenzbolzen der Wirtschaftswissenschaften' würde sicher den Teilnehmerrekord brechen. Im Geheimen -was unsere Realität ist- wartet nämlich jeder von uns darauf, einmal in eine Big-Bang-Theory-Wohngemeinschaft hineinzurutschen. Also die von der US-amerikanischen Fernsehserie mit den Physiknerds. Wie das gehen soll, weiß auch keiner, da wir fast alle noch daheim wohnen. Aber lustig wäre es schon. Wir haben auch einen im Studiengang, der wie Sheldon Cooper ist. Urkomisch. Selbst ich musste oft darüber lachen wie kompatibel diese zwei Typen sind.
Ich gestehe mir aber ein, dass auch ich bei Frauen -wenn es darauf ankommen würde- kläglich scheitern würde. Da mache ich mir kein X vors U. Ich wäre vielleicht noch schlimmer dran als unser WiWi-Sheldon, da ich eine konkrete Vorstellung von Liebe und Frauen besitze, über die ich weiß und die ich auch erfüllt sehen möchte. Auch wenn ich nicht weiß wie das jemals funktionieren soll! Manchmal frage ich mich dann, wem von den Big-Bang-Serientypen ich eher entspreche. Ich bin wohl eine Kombination aus Lennart Hofstadter und Rajesh Koothrappali: auch ich suche eine feste Beziehung zu einer Frau, bekomme aber nur betrunken den Mund auf. Abgesehen davon bin ich weder hochbegabt noch indischer Abstammung. Was aber allen WiWis unserer Fakultät gleich ist: insgeheim wartet jeder von uns auf seine Penny. Außer vielleicht Rolf. Er hatte schon etliche Frauen und eine hieß meiner Meinung nach sogar Penny. Egal. Ich weiß wie meine Penny heißt. Meine Penny heißt Tina.
An diesem Abend der Weihnachtsfeier, nach dem Ketchup-Intermezzo, sah ich Tina jedenfalls nicht noch einmal wieder. Leider. Auch die Tage danach sah ich sie nicht, sodass ich ihr kein schönes Weihnachtsfest wünschen konnte. Ich wollte ihr sogar einen geschnitzten Serviettenhalter in Herzform schenken. Serviettenhalter wegen der Sache mit dem Ketchup. Auch so eine peinliche Sache. Doch daraus wurde nichts. Zum Glück? Zufall? Ach, wer weiß das schon?
Wenn wir uns im neuen Jahr sahen, dann nur kurz und wir waren nie wieder so nah beieinander wie bei der Weihnachtsfeier. Wir sahen uns nur zufällig auf dem Weg zu unterschiedlichen Hörsälen auf dem Campusgelände. Ich fand sie immer. Mein Tina-Blick erspähte sie immer. Er war auf Psychologinnen eingestellt, von denen sie giggelnd umringt war. Sie lächelte zaghaft im Vorbeigehen. Dann lief ich immer etwas zu gerade und wippte mit den Fußballen. Im Nachhinein musste dieses Herumgewippe sehr blöd ausgesehen haben, sodass ich es schnell sein ließ. Das ging mehrere schöne Wochen so. Wir sahen uns an und lächelten. Mehr nicht. Wir sahen uns und lächelten breit.
Einige Wochen später schaute sie -wenn wir uns sahen- nur überrascht auf und lächelte etwas gequält, fast schon entschuldigend. So machte es den Eindruck auf mich. Mehrmals sah ich sie in dieser Zeit auch in Begleitung eines großen Studenten mit kurzen, roten Haaren, der so selbstverständlich den Arm um sie legte, dass es meinem Herzen einen tiefen Stich gab. Wie ein Messer, das fein säuberlich in einen weichen Butterblock schneidet.  
Ich verfiel wieder in alte Muster. Ich stürzte mich Hals über Kopf in Studienkram und wusste, dass ich sie verloren hatte. Dabei hatte ich sie ja nicht einmal! Nachts lag ich lange wach und dachte an sie. Ich dachte auch früh am Morgen an sie, wenn ich nicht mehr schlafen konnte. Vielleicht konnte ich auch wegen Tina nicht mehr schlafen. Doch dachte ich an Tina, dachte ich auch an den rothaarigen Holzkopf. Diesen gelackten Affen, dem ich gerne eine rein gehauen hätte. Nur ich hätte es bestimmt nicht hinbekommen. Dann hätte ich aber auch gleich mir eine mitgeben können, dicht gefolgt von meiner sozialen Inkompetenz, meiner Blindheit.
Tina ist eine klare 1. Und eine 1 kann man nicht... nein, keine Frau kann man nur durch Lächeln und nett Vorbeilaufen für sich gewinnen. Der rothaarige Affe wusste es. Rolf, der alte Frauenversteher, wusste das auch. Nach einem Seminar über Wellenoptik letztes Jahr wurde mir das rückblickend bewusst. Da sagte er mal aus heiterem Himmel und erschreckend ernsthaft: „Liebe ist wie eine Welle: Du musst immer paddeln, um auf ihr surfen zu können. Wenn du dich nur treiben lässt, bricht sie über dich herein oder du verpasst sie." Erst mehrere Minuten nach diesem Spruch mussten vergehen, dass er wieder lachte. Warum Rolf nicht in der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für Praktische Philosophie begleitet, verstand ich nicht. Er hatte absolut recht damit! Ich hatte es verpasst Initiative zu zeigen. Ich habe Tina gehen lassen. Ich habe sie gehen lassen in die Arme dieses Rotschopfs. Dass es da immer einen Zeitplan geben muss, wann man den nächsten Schritt unternehmen soll! Wer sagt einen denn so etwas? Nach dem Ketchup hätte das Date kommen müssen! Alles locker und spontan, aber natürlich gut vorbereitet. Die Konvention der Liebe verlangt es. Ein Date. Ganz klassisch. Ich Spätzünder hatte es vor lauter Tina nicht geschnallt! Ich hätte sie daten müssen. Müssen
Danach tat ich mehr. Also im Rahmen meiner introvertierten Möglichkeiten. Denn ich bin Timo. Und Timo ist immer noch Wirtschaftsingenieur mit nerdiger Veranlagung. Ganz leicht zumindest. Glücklicherweise verbesserte es sich. Maßgebend erst mit heute! O Gott, heute! Wie gesagt auch ein wenig durch Rolf, als er mich zu Tina schubste und ziemlich unschuldig dabei tat. Am 02. April war das. In der Mensa der Uni, deren Fußboden mit vielen grauen Fliesen gekachelt war.
Nun ist immer noch der 02. April. Es ist 20:30Uhr. Unser Date läuft. Im Fogoso Brasil. Tina und ich sitzen uns gegenüber und ich starre meinen gerade grünen Strohhalm an, um nicht Tina anschauen zu müssen, der ich hoffnungslos verfallen bin. Alkohol habe ich eindeutig genug, das weiß ich auch ohne die besorgte Kellnerin. Aber dennoch habe ich eine Blockade. Ich habe mich so sehr darauf vorbereitet überhaupt Tinas Aufmerksamkeit zu erregen, dass ich nun, da ich sie wundersamerweise habe, komplett kopflos bin. Die 7 Stunden vor unserem Date war ich ein Schrotthaufen. Jetzt hier am Tisch in der Bar das Leiden Christi persönlich. Ich hätte Rolf noch fragen sollen, was man beim ersten Date beachten muss und macht.
Ich bin so ein Versager! Ich werde es verspielen. Auf ganzer Linie verzocken. Nichts mit Wellenreiten. Die Welle wird unter mir durchrollen. Ich werde sie verpassen. So wie Rolf es mal bei einem Seminar für Wellenoptik ernüchternd feststellte. Rolf! Rolf! Rolff!!! Ich schmiss fast mein Cocktailglas um. Das ist es! Ich zog gedankenversunken eine Ladung Virgin Caipi vom nun wieder blauen Strohhalm. Ohne Cachaça schmeckte er richtig gut. Richtig gut. Wie Hoffnung. Er schmeckte stark nach Hoffnung.
Rolfs letzte Bemerkung vor meinem Date kam mir nämlich in den Sinn. Zwischen Cocktailglas und Tischkante schwebten seine Worte prophetisch in der süßen Luft von Fogoso Brasil:
„Hör mal zu, du Weichkäse! Du bist Wirtschaftsingenieur! Du hast schon ganz andere Sachen zum Laufen gebracht. Du bist ein Nerd? Und wenn schon! Na und? Wen juckt das! Wenn sie mit dir ausgeht, dann scheint sie sich für dich zu interessieren. Also mach dir mal keine Gedanken. Lass es doch einfach auf dich zukommen. Zeige ihr, dass du dich auch für sie interessierst und kipp dich nicht weg...Oder kipp ihr doch mal Ketchup drüber!"
Als er meinen panischen, totenbleichen Gesichtsausdruck sah, fügte er lachend hinzu: „Man Timo! Soll ich dir ein In-Ear-Headset mitgeben und dir alles zuflüstern? Dann geb ich dir aber auch meine Handynummer durch, die du dann Tina gibst. Okay?", scherzte er. Da wusste ich, dass er mir das ohne Zweifel zutraute und ich nichts zu verlieren hatte außer meiner Schüchternheit.
Es wird nun Zeit von Rajesh Koothrappali zu Lennart Hofstadter zu wechseln. Jetzt kommt der Big Bang! Vorbei mit Theorie! Penny ich komme! Ich überließ den grün-blauen Strohhalm sich selbst und suchte ihre braunen Augen. Tinas braune Augen.
Ich hob entschlossen meinen Blick über den Rand meines Cocktailglases hinaus und versuchte Tina zu fixieren. Ihre Augen waren wie Sterne. In ihnen steckte ein Licht von Wirklichkeit. Sie waren eingefasst von kleinen, warmen Fältchen um ihre Augenwinkel. Wundervoll. Es dauerte etwas, bis sie es mitbekam, dass ich sie anschaute. Sie fuhr gedankenverloren mit dem Finger um den Rand ihres Glases, das noch ganz wenig Erdbeersaft enthielt, bevor sie meinen Blick eher zufällig bemerkte. Als sie überrascht zu mir aufblickte, lächelte sie etwas gequält, fast schon entschuldigend.
Ich kannte diesen Ausdruck.
Ich wusste, dass dies meine letzte Chance war.
Ich begriff plötzlich, dass Tina in diese neue Tanzbar wollte. In diese Tanzbar, in der wir gerade sitzen.
Wir.
Sie wollte in diese neue Tanzbar, weil sie sicher auch interessiert ist hier zu tanzen!
Und das mit mir.
Ich kann nicht tanzen, aber jetzt ist keine Zeit für Ausflüchte. Mir ist egal, ob ich mich blamiere. Wenn ich mit jemanden tanzen will, dann ist es Tina.
Ich ließ sie nicht aus den Augen und sagte ruhig und sicher, so sicher wie ich noch nie etwas von mir gegeben habe: „Tina, möchtest du mit mir tanzen?"

Am nächten Morgen war ich spät dran. Zu spät. Und das auch noch bei Professor Euler. Er gibt Betriebswirtschaft. Der merkt sich das. Ich bin noch nie zu spät gekommen. Meine 4,0 in der nächsten Klausur kann ich wohl vergessen. Einmal zu spät kommen, reicht bei Euler schon. Pünktlichkeit ist eine Tugend und eine Selbstverständlichkeit, wird er nie müde zu betonen und tadelt stets diejenigen, welche den Beginn seiner Lesung versäumen. Der Grund für die Verspätung ist ihm immer egal. Man kann ja eher aufstehen. So seine Devise. Was für ein Idiot! Aber ich schaffte es noch. Gerade so pünktlich, sagte mir ein Blick auf meine Uhr. Kurz vor Beginn der Betriebswirtschaftslehre-Lesung am Eingang zum Hörsaal zog mich ein besorgter Rolf beiseite: „Mensch, Timo! Ich dachte du hast dich umgebracht! Man, wie lief's? Dein Date meine ich. Hat das mit dem Ketchup funktioniert?", scherzte er munter. Ich kam nicht dazu zu antworten, da plötzlich jemand um die Ecke in den Gang zum Hörsaal bog. Zum Hörsaal der Wirtschaftsingenieurwissenschaft. Unser Hörsaal.
Prof. Euler war es nicht. Er kam wohl auch zu spät. Das kann es gar nicht geben!
Ich erkannte sie an ihren schnellen Schritten, bevor ich später ihre blonden Haare und die braunen Augen sah.
Es war Tina.
Da gleißendes Sonnenlicht durch den fensterumsäumten Gang brach, konnte ich ihren Ausdruck nicht deuten. Dann stand sie plötzlich vor mir. Meine Penny. Tina.
O, Gott! Sie stand vor mir und ich grinste blöd. Warum grinse ich immer blöd?
„Hallo Timo. Klasse dich zu sehen. Es war total lustig gestern. Willst du mit mir einen Tanzkurs machen? Ich musste dich das fragen", keuchte sie außer Atem. „Gleich sind die Einschreibungen für die Kurse. Und ich habe doch deine Nummer nicht." Daraufhin steckte sie mir einen Zettel mit ihrer Nummer und ihrem Namen in schön geschwungener Handschrift entgegen, den ich verdutzt nahm. „Es hat mir richtig Spaß gemacht. Du warst großartig, Timo. Tut mir Leid, dass ich dir ein paar Mal auf die Füße getreten bin. Manchmal bin ich ganz schön schusselig", sprach sie verlegen und wurde feuerrot.
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, aber es muss wohl das Richtige gewesen sein.
Tinas Augen lachten hell. Dann küsste sie mich auf den Mund und verschwand elfengleich im Sonnenlicht. Mir war als würde ich den stärksten Weidenzaun der Welt anfassen. Geistesabwesend leckte ich meine Lippen ab und schmeckte Kirsche. Ganz klar Kirsche. Wie Kirschgeschmack und ein Weidenzaun in Beziehung stehen, wusste ich mir nicht zu erklären. Ich war zurück im Fogoso Brasil und mein Herz tanzte freudig. Im Gleichklang mit ihrem.
„Ach wie schön, dass ich nun nicht mehr bis zur Rente warten muss und in Frieden abtreten kann...", kommentierte Rolf von weit her, der sich vor Grinsen kaum einkriegte. Er lag halb auf dem Boden. Erst als er Witze über Timo, den tierisch-tollen Tanzbären, machte, holte er mich zurück in die Gegenwart. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Als Euler plötzlich zügig und schwitzend den Gang entlangkam, seine Aktentasche baumelte gefährlich im Takt seiner schnellen Schritte, zog Rolf mich Paralysierten feixend und auf die Schulter klopfend in den Hörsaal. Als wir zwei uns auf unsere angestammten Plätze in der vorletzten Reihe schlichen, entschuldigte sich Euler bereits demütig und flehentlich bei seinen Studenten, die das Schauspiel zu genießen schienen und ihn mit finsterer Miene anschauten. Sie machten es ihm nicht leicht. Sie dachten nicht daran.
Ehrlich gesagt, bekam ich davon aber nicht viel mit. Das Einzige, was ich wirklich zum ersten Mal mitbekam, war, wie schön doch dieser Hörsaal war.
Die alten, bekritzelten Nussbaumtische. So braun wie Tinas Augen.
Die sonnenbeschiene beige Wand. Genau die Farbe ihrer Haare.
Dieser Hörsaal ist schön!
Er hat mein Herz gestohlen.
Ich umklammerte fest den Zettel.
Den Zettel mit Tinas Nummer und ihrem Namen in schön geschwungener Handschrift.

In der Luft lag ganz viel Möglichkeit.

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