Dienstag, 21. Februar 2017

Am Anfang war die Torte...


Sag mal! Was fällt dir eigentlich ein, du Pflaumenaugust! Noch ganz bei Trost oder was? Das ist meine Torte! Was bist du denn für ein Stukenförster! Ich glaubs wohl nicht, du Gesichtsältester! Her damit! Oorschwerbleede!"

So fängt es an. Jeder kennt es. Und man kann diese hitzige Beispieltirade der Entrüstung noch beliebig ergänzen und der verletzten Seelenlage mittels ansprechenden Kraftausdrücken die wohlgeschliffene Form der Entsprechung verleihen. Es gibt viel Unheil und zwischenmenschliches Gezänk bis hin zum neandertalischen Raufhändel mit Todesfolge. Jeder kennt es. 
Ein griffiges Beispiel:

Im Supermarkt starrt man stumm ins Kühlregal. Nach Stunden findet man das, was man unbedingt möchte. Es ist teuer. Egal. Oh ist das teuer. Egal! Du willst es. Um jeden Preis. Und es gibt nur noch eine Packung davon. Du bist ein Sonntagskind. Da ist es. Heilig angestrahlt durch gut eingestellte Kaufhausstrahler: 

S O J A M I L C H! 

Glutenfreie, fructoseresistente, lactosefreie, antioxidative, vegetarische, homogenisierte, ultrahocherhitzte, gentechnikbefreite Sojamilch. Du wusstest gar nicht, dass neben so viel milchiger Info, die draufsteht, auch noch Soja drin ist. Aber da steht sie: Sojamilch. Und dann noch preisreduziert. 
Dein Glückstag! 
Denn heute kommt Besuch. Dein Partner in Spe. Es ist der mit gewissen Vorzügen. Du hast mal davon gelesen, dass es gut ankommt, wenn man einen Kuchen backt. Als Überraschung. Sozusagen die Nachspeise für später anrühren. Als krönendes Sahnehäubchen. 
Kuchen!
Dass so etwas lecker schmeckt, weißt du.
Nur du hast absolut keine Ahnung wie Kuchen geht oder ob du zu Hause überhaupt einen Ofen hast, aber Sojamilch ist gerade ganz hip. Beinahe so richtig...hop(#dumerkstgeradedassdiraufhipnurhopeinfällt) Kuchen. Da macht man nichts falsch. Da braucht man so etwas Sojamilchartiges. Hast du mal irgendwo gelesen. Du studierst den Beipackzettel. Also das Rezept deines Wunschkuchens. Den hast du dir online angeschaut und die Zutaten ganz mutig ausgedruckt. Du liest den Unterpunkt Zubereitung. Zweifel umfallen dich. Selbst mit Ofen könnte es mit deiner Wunschtorte eng werden. Und mit deinem Sahnetörtchen später auch. Du spürst, dass du es nicht gebacken kriegst. Auch wenn du die Sojamilch schon hast.
Nach Stunden schweift dein Blick zum Fertigtortensegment. 
Du wanderst also gemächlich zur Gefriertruhe.
Das ist gefrorene Liebe. Für die Ewigkeit sozusagen. Musst du nur auftauen. Kinderleicht. Und dann noch 'Coppenrath & Wiese'. So eine blühende Wiese aus Kirschcreme. Klingt auch sehr gut. Sahne ist auch drin. Ausgezeichnet!
Es ist nur noch eine da. 
Das merkst du als ein Horst neben dir diese Torte nimmt. 
Die letzte. 
Die letzte Kirschcreme-Torte. 
Dieser schmarotzende Obstmichel! Diese narzisstische Quarkplinse! Diese offene Tüte Dekozucker! 
Manchmal blickt man im Leben in die Röhre. Oder eben in die leere Tiefkühltruhe, in der die Schwarzwälder-Kirsch-Torte fehlt. Sie wurde dir geraubt! Dir, dem Chefkoch. (#chefkoch.de) Dir, dem Tortenbäcker von frisch & lecker. Geraubt! Und das nur wegen diesem geleckten Arschkrampenwindbeutel, der jetzt luftig und locker deine Torte klar macht! Du wütest. Gehst auf wie Hefe. Du berserkerst durch die gesamte Tiefkühltruhe.  
Hier ist das griffige Beispiel zu Ende und wir gehen back to academics:

Es beginnt mit einem gefühlten oder begangenen Unrecht, einem angeblich unlösbaren Missverständnis, ein nicht ganz so nettes Wort entflutscht der Zunge und plötzlich hat Kurt Wallander wieder etwas zu tun. Oder Benjamin Blümchen, der helfend aus der Coppenrath & Wiese-Torte gehüpft kommt. Je nachdem wie man es anstellt (denn ein Fünf-Tonnen-Dickhäuter kann nicht ganz so locker aus einer Torte springen #mannistderdickmann!), sieben atemberaubend spannende Folgen lang. Dann, nach einer langen Zeit, ist der Tortendiebstahl, dieser gefrorene Süßspeisenraub der Liebe aufgeklärt. Also eigentlich ging es schon längst nicht mehr um die Torte. Es geht vielmehr um den Tortenguss, das Sahnehäubchen. 
Ungehalten -rasend- bläkst du in den Tortenschrank. 
Wutenbrannt nennst du es beim Namen: Dieser pappische Obstgelee von Typ, dieser bekiffte Mohnkloss, dieser besoffene Kapuziner, diese süßholzraspelnde Makrone von Tortendieb!
Du wirst selbst zum üblen Flucher und kannst vom Fluchen nicht lassen. Warum, weißt du auch nicht so recht. Der Grund ist eigentlich lächerlich. Eigentlich. Aber Fluchen macht das Ganze besser. Erträglicher. Du fühlst es. Dieses Unrecht, das dir angetan wurde. Du fluchst ins andere Gesicht. Hübsch mit allem was dein Vokabular so her gibt. Du wirst zum verbalen Gewalttäter. 
Das ist die Anklage! 
Die eigentliche schädliche Message: Du wirst vom Opfer zum Täter! 
Was dein erzählerischer Nudelholzschwinger damit sagen will, ist, dass Fluchen und Beleidigen nicht nur zu einem farbig geschwollenen Auge führen können, sondern als Stufe der Gewalt oft wie natürliche Reaktionen anmuten, diese aber antrainiert sind und an sich zu keiner tiefergehenden Besserung der „Ich-störe-mich-daran-aus-welchem-Grund-auch-immer"-Situation führen, sondern Lösungen versperren. Lösungen bleiben frisch eingefrostet wie deine Tiefkühltorte. 
Ich gebe gerne zu: Fluchen ist ein artistisches Auf-der-Stelle-treten zwar, aber ein Stehenbleiben, bis hin zum Rückschritt.
Leck-mich-bitte-kreuzweise-am-Affenpfirsich wohnt also in der Ich-will-fluchen-Straße gleich neben der F***-dich-ins-Knie-Allee oder wie? Verzeiht meine obszönen Äußerungen, die sich hier und überhaupt nicht gehören. Ich distanziere mich sogleich aufs Heftigste davon. (#vorbildwirkunginderöffentlichkeitwirdüberschätzt) Pfui! 'Es ziemt sich nicht!', kniggt es freiherrisch. Denn Beleidigung aller Art sind der Ausdruck eines ziemlich geschmacklosen Teigs, Zeichen von Kontrollverlust und projezierter Angst, dem sichtbaren Leck an nüchterner Entscheidung, die selbsteingestandene Einbahnstraße der willenlosen, entmündigten Existenz. Beleidigungen zeugen auch immer von inneren Grenzerfahrungen, von Grenzen der eigenen Sprache und des angeblich aufgeklärten Seins. Nicht erst seit der beispiellos geklauten Tiefkühltorte, sondern auch seit Wittgenstein wissen wir, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer selbst sind.

Aber ich sage es trotzdem, aus voller Kehle und Überzeugung, dass der Begrenzte, der gehörnte Armleuchter in der Verpiesel-dich-Gasse wohnt! Warum? Weil ich der Rächer aller bestohlenen Tortentraumatisierten bin und das darf. Und auch (so ganz nebenbei) weil ich der Erzähler bin: Ääätschi Bääätschi. Nein, dein süßer Raubritter der Gerechtigkeit könnte es natürlich auch akademisch im Medizinerslang sagen: der be-fluchte Patient leidet unter supranasaler Oligosynapsie, ist also nebulös behirnt oder mental beschränkt. Aber dieser Befund klingt nur anders, meint aber schlichtweg dasselbe: plemplem und höllisch deppert! Ich mag halt unorthodox und anders, deshalb fluche ich trotzdem. Ich machs mit. Ist zwar nicht safer, aber immerhin verständlicher. Man soll sich ja auch ausdrücklich klarer ausdrücken! Verstehste? 
Aha! Das würde ja heißen, dass Fluchen und Beleidigen voll okay sind, oder? 
Ja, oder! Also das meint nein
Fakt ist: Fluchenden muss geholfen werden, zu ihrer und unser aller Besten. Dass ich dies jemals einmal sagen werde, hätte ich nie gedacht. Ich glaube es fast selbst nicht, dass ich so etwas gesagt habe. Klingt fast so als hätte jemand zu viel bunte Benjamin-Blümchen-Streusel inhaliert (#diegabesbis1995auchaufderschwarzwälderkirsch). Sozusagen den Streuselsalat durch die vielfarbige Pappverpackung geschnupft, die in der Hand eines Tortenräubers liegt. Die zwischen schuldigen Händen des habgierigen Täters achtlos festgekrallt wird. Und dir nicht gegeben wird. Das sind die neuen Leiden des jungen Bäckers. Ein Bäcker, der du bist und der sein Recht unrechtmäßig einzufluchen versucht. Also?
Warum sollte man Befluchten helfen das Fluchen zu unterlassen? Ja, warum? Du immer mit deinem Warum! Denn - die - Welt - soll - schöner - werden! Wenn man dem gestotterten Wörtern eine ernsthafte Bedeutung geben will, heißt es, dass jeder ein Stück vom großen Kuchen abbekommen soll. Du merkst, dass da nur ein ganz kleines Stück übrig bleibt, wenn man jeden bedenken will. Auch für dich. Nur ein klitzekleines Krümelchen. Aber auch das sollte man niemandem absprechen. 
Kurzum Idealismus ist der Grund und die Triebfeder für viel schönes Tun. Deshalb gleich nochmal:

Unsere Welt soll schöner werden und jeder sollte seinen Beitrag dazu leisten. 

Das kann man auch mal so freitragend stehen lassen. Kann man. Muss man nicht. 
Denn man kann auch schön und auf schönste Art fluchen. Kann man so stehen lassen. Muss man aber nicht. Aber darum geht es hier nicht. 
Es geht darum: Ich finde jeder -ja auch du!- hat eine schöne Seite, eine menschliche Seite, die ihm gut steht. Das ist deine Schokoladenseite. Ganz lecker nebenbei. Oft ist es die, welche du von schräg oben im Selfiemodus vorm Spiegel fotografieren willst. Dann, wenn du allein bist. Aber doch etwas anders als die. Sie steht dir besser als die andere. Auch die kennst du gut. Auch wenn du es nicht wahrhaben oder nicht hören willst. Aber wenn du vielleicht zufällig einmal versuchst deine schöne Seite zu zeigen, wirst du vielleicht erfahren, dass sie dir wirklich gut steht.
Und außerdem (zweitens! #krassoderesgibtnocheinzweitens) kann man dieses gerade ausgeführte Fluch-Flucht-Vorhaben auch plump akademisch begreifen. Denn Fluchen als Umstand wird dabei als faktischer Untersuchungsgegenstand an sich betrachtet und die Folgen für die Mitwelt dargelegt. Es ist also ein Thema von höchster Brisanz. (#dietorteundihrefolgen #benjaminblümchenrandaliertimkühlregal)
Langsam merkst du, mein lieber Hörer, dass ich vor dem Ofen (in dem eine geile Torte hätte backen können) hervorkomme und dir einiges zutraue. Auch wenn ich dir kein Kirschtörtchen backe. Heute und vielleicht auch nie. Du fragst dich, warum ich von dieser doch ungewöhnlichen Thematik erzähle (#fluchen). Vielleicht, weil es so alltäglich ist? Es war mir nämlich so normal, dass es mir einer unnormalen Betrachtung würdig erschien (#iswearbythemoonandthestarsandtheskies). Denn dein ziemlich umtriebiger und herumtreiberische, fast schon amtlich glasierte Kirschtortenaufklärer fuhr mal wieder Zug durch Deutschlands Perlen der Landwirtschaft. (Jetzt kommt wieder was mit Kindern (#kinderüberraschung), also einfach aufhören und am nächsten Absatz weiterlesen, wenn du die Faxen dicke hast. Wenn du die Nase gestrichen voll hast von diesem behämmerten, idiotischen Vollhobel, der meint, er könnte dir etwas erzählen über ....>>> FLUCHEN!!!)

Also ein strohblonder Junge spielte mir schräg gegenüber eifrig auf einer furnierten DB-Holzplatte zum Hochklappen. Ich erkannte unter vielen „Wow", „Aw" und spuckenden Explosionsgeräuschen die englische Sprache: amerikanischer Slang. Die knubbeligen Hände des Kleinen, die sonst nur Big Kings und fettige Pommes umschließen, wirbelten eifrig umher, fest um Action-Spielfiguren geschlossen. Bei spielenden Kindern kann ich nicht anders, ich muss hinschauen. Ich schaute genau hin. Ganz genau. Es war gerade ein fulminanter Arenakampf entbrannt. Nein! Es war ein weltverändernder Fight! Ganz episch zwischen Hulk und Captain America ausgebrochen. Marvel könnte sich davon gekonnt was abgucken. 
Dann der Ausruf von Steve Rogers alias Mr. USA: „Eat shit you fucking bastard. I'll kill you!″ 
Ich fand das so liebevoll und lustig, bis ich schlagartig Beklemmungen bekam. Ich sah bereits dieses heranwachsende Bildungsbürgertum, dieser unnahbare Goldstern am Firmament der Zwischenmenschlichkeit (#goldkeimling). Abgesehen von der rudimentär ausgeprägten Problemlösefähigkeit des Kindes war ich erschrocken. Ja, ich war sehr erschrocken, aber erst nachdem ich ausfällig geworden bin. In meinem Kopf. Ich fluchte in mich hinein wie man so einen Spruch als Elternteil locker durchgehen lassen kann. Ungeahndet! Ich fluchte wie ein Rohrspatz. Ich fluchte darüber wie der kleine amerikanische Junge so frei heraus fluchen konnte. Da dachte ich über diesen Fluch oder Segen des Fluchens nach. Dann entschied ich mich für diesen SLAM-Beitrag, deren Teil du gerade bist und notierte das hier:

Sind wir ehrlich, so bringt einen Fluchen und Krakeelen vielleicht Erleichterung, aber letztlich nur kurzzeitig und an tiefergehende, anhaltende Befriedigung ist nicht zu denken. Denn man fühlt sich früher oder später schlecht, richtig elend sogar. (Zumindest jeder gesunde und gut erzogene Mensch!) „Und das ist auch gut so", würde Klaus Wowereit jetzt sagen. Genau, Meiner!", schreie ich hinterher! Dies liegt daran, dass wir ein sehr tolles Gewissen besitzen, d.h. moralische Dos and Don'ts erlernt, erfahren, verinnerlicht und ausgefeilt haben, die unseren Entscheidungen als Kompass dienen und zu wünschenswerten Handlungen im kantischen Verständnis führen (sollen): 
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, radebrechte sein kategorischer Imperativ. Auch die konfuzianistische Goldene Regel sollte hier Anwendung finden und besser nicht im zwischenmenschlichen Verbalaustausch materialistisch eingeschmolzen werden. 
Blöd dabei ist: Dieses Wissen macht uns aber nicht zu guten Handelnden. Oder anders ausgedrückt: Nur weil ich weiß, dass ich das letzte Stück russischer Zupfkuchen (der nun als Schwarzwälder-Kirsch-Torten-Ersatz herhalten musste) eigentlich mit meinem Partner in Spe (meinem Sahnetörtchen) teilen sollte, hält es mich nicht davon ab, es einfach gierig zu verschlingen, weil es sonst schlecht zu werden droht. (#diesistnichtwirklicheinstichhaltigesargument) 
D.h. über das richtige Handeln zu wissen und danach letztlich zu handeln sind bekanntlich zwei unterschiedliche paar Schuhe. Der eine ist zu klein, der andere zu groß. Aber das ist ein spannendes, anderes Kapitel.

So nun aber flockig zurück zum Eigentlichen! Zum Hauptgeschäft. Wir waren ja beim Fluchen. Den Fluch haben wir uns schließlich selbst eingebrockt. Sozusagen in den Teig unserer Seele gebröselt. Alles mit viel gezüchteter Aufgebrachtheit. Selbstgebacken dieses Problem. Also es geht nun weiter mit Fluchen im Verbalverkehr. (Verbalverkehr! Ausdrücklich nicht zu verwechseln mit Oralverkehr! Pfui, wenn du schelmisch daran dachtest!) Ob vor der Tiefkühltruhe oder wo auch immer. Ich rate dir jetzt noch einmal ausgiebig zu fluchen, denn danach wirst du es nicht mehr können bzw. nicht mehr sollen dürfen! Sonst wird Kant böse und haut dir noch seine gut gebundene, abendländische Philosophie um die Ohren! Oder Kant stopft sie dir gleich in deine vor Geifer triefende Maultasche, die den Fluch hat, keine 52 Zähne zu haben, sondern nur 36. Vielleicht fehlt danach sogar einer. Also doch kein Butterkeks. Manchmal hilft es sich das zu sagen. Denn beim Fluchen geht häufig der IQ nicht über den eines philosophischen Butterkekses  hinaus (#leibnizwarkeinbutterkeks). Aber gut. 
Wenn du nicht fluchen willst, dann fluch jetzt endlich! Wenigstens mal über diese Fluchenden! Das wäre ein Anfang. Bereit? Gut. Los! Fertig? Dann bist du nämlich direkt in der richtigen Stimmung. Jetzt kommts:
Lassen wir uns wutentbrannt und zornfunkelnd zu verärgerten Ausrufen hinreißen und berserkern wir oral (hihi jetzt mal nicht verbal) durch den Elfenbeinturm der Moral, so zielen wir (gewollt oder ungewollt) auf andere Mitmenschen und verstümmeln ihnen leidvoll die Seele, um sich aus ihrem Schmerz selbst zu erhöhen und zu kräftigen. Ja, das klingt ganz schön fies, nicht? Viel krasser ist: Wie eine parasitäre Aufsetzerpflanze saugen wir im Fluchmodus letztlich die Brise Achtung und Menschlichkeit aus uns selbst heraus, die wir vor uns und unserer Menschheit haben sollten! 
Dem sollten wir Leid sein! 
Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid", wusste schon Yoda. Der war übrigens Ausländer, ein Humanoid und hatte deutlich mehr IQ als ein Butterkeks! Und dazu war er noch einer von den Grünen. Ob er auch Vegetarier war und homogenisierte Sojamilch trank, weiß man nicht (#derwitzkommtflach). Wie auch immer: sei lieber mehr menschlicher Abstammung. Sei mehr Yoda. Trete ein Stück aus dem Schatten deiner Fiesheit. Komm auf die helle Seite. Spüre wie sie dich durchströmt: Moral.
Ganz tief in dir. Gleich rechts ab bei deinem Hungergefühl, beim Dreieck Darmflora. Denk, wenn du im Stadtpark chillaxt oder auf Balkonien herumspringende (grüne) Eichhörnchen siehst: Großer Kuhmist das Beleidigen und Fluchen ist! Aufhören damit ich muss! 
Dann klappt's auch mit der Torte.

Und danach gönnst du dir einfach das letzte Stück Zupfkuchen. 
Wie immer. 
Egal was passiert. 
Es gibt schließlich Prinzipien.

Dienstag, 14. Februar 2017

Mein Date mit dem Cocktailglas



Der Strohhalm ist grün. Nur wenn ich mich nah genug vorbeuge, um aus ihm zu trinken, wird er blau. Genau dann, wenn die Flüssigkeit darin hochgesaugt wird. Er steckt teilweise hinter Eis, Limetten und Minze versteckt in einem Ornament-Cocktailglas. 25 Zentimeter hoch.
In einem fast leeren Cocktailglas. Ich schlürfe nur noch das halbgeschmolzene Eis und etwas Rohrzucker aus dem grün-blauen Strohhalm. Der Cachaça ist schon lange verschwunden. Sanft umnebelt er meinen ohnehin verträumten Blick. Den Blick, der gerade das Schmelzen des Eises als unglaublich interessant einstuft. Es macht die Situation nicht besser, dass ich dieses Schauspiel heute schon zum dritten Mal in einer Stunde verfolge.
Ich bin Timo, 21 und angehender Wirtschaftsingenieur. Und hoffnungslos verknallt. Allerdings nicht in den Strohhalm. Nicht das hier falsche Bilder entstehen. Auch wenn man es meinen könnte, da er grün-blau ist. Und die Farbe eines dämlichen Strohhalms einen eigentlich nur interessiert, wenn man nicht ganz richtig im Kopf ist. Aber er ist nun mal grün-blau. Das hat was mit genauer Beobachtung zu tun. Mit ganz präziser Beobachtung. Nicht mit Verrücktsein. Ich drücke meine Lage mal so aus: Es gibt diese Wellen, die aus dem Nichts kommen und dein ganzes Leben durcheinanderwirbeln. Meine Welle ist eine Frau. Ihr Name klingt wie sanft schäumendes Weißwasser, das sich am hellen Strand bricht. Und sie hat mich so durcheinandergewirbelt, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Wunderschön ist das. Manchmal auch beängstigend. Aber schön. So schön, dass mir mein Herz bis zum Hals schlägt. Das Herz, das ihr schon längst verfallen ist. Immer schon.
Während ich das leicht süße Wasser trinke, umklammert meine eine Hand das Cocktailglas, damit sie nicht zittert. Die andere klopft leicht auf den Holztisch oder fährt mit der Fläche über die feine Maserung. Wenn ich das nicht selbst wäre, würde mich das stören. Bei jedem anderen würde mich das total stören, wenn man sich so an das Glas krallt und blöd auf dem Tisch herum klopft. Und den Gegenüber nicht anschaut. Den Gegenüber, den ich doch unbedingt anschauen möchte! Schon lange. Immer.
Ich zutsche bis das saugende Geräusch von Luft zu hören ist und blicke verstohlen über den Rand des Cocktailglases auf. Zur anderen Seite des Tisches. So weit entfernt, aber doch so nah. Vielleicht eine Armlänge entfernt sitzt sie: Tina. Tina ist 22 und studiert Psychologie. Und Tina ist der Grund weshalb ich einen Cocktail nach dem nächsten trinke. Und weshalb ich weiß, dass der Strohhalm grün-blau ist. Denn sie ist so hübsch, dass ich es nicht aushalte und fast verrückt werde. Was mich daran hindert, ist der ahnungslose Strohhalm, den ich aufmerksam beobachte.
Tina sitzt da, lächelt und trinkt keusch ihren Erdbeersaft. Ich glaube zumindest, dass man diesen Ausdruck keusch nennt. Davor hatte sie einen Pina Colada so verführerisch getrunken, dass ich sie die ganze Zeit nur anstarrte. Das war nicht keusch! Gerade leckt sie den Strohhalm von pürierten Erdbeeren frei. Ganz klar verführerisch. Ich gaffe schon wieder. Ich stelle mir vor der Strohhalm zu sein. Ich bin irre neidisch. Sie saugt den dicken Saft durch die runde Öffnung des Strohhalms. Am Ende leckt sie ihn nur mit der Zungenspitze ab und lenkt den Erdbeerschaum geschickt in ihren Mund. Ich glaube mich beim Starren zu ertappen. Da möchte man einmal im Leben Strohhalm sein! Habe ich das schon gesagt? Damit ich was zu tun habe, nehme ich meine vor Aufregung schwitzigen Finger vom nun endgültig leeren Cocktailglas und bestelle mir hilfesuchend noch einen Caipirinha.
Ich mache verlegen einen Virgin Caipi daraus, weil mich die Kellnerin ganz entrüstet anschaut. Vielleicht weil sie einen vierten alkoholischen Cocktail meinerseits für unvertretbar hält oder weil ich gerade auf den Tisch gesabbert habe. Ich lege unauffällig die weinrote Serviette darüber und hoffe Tina hat es nicht gesehen. Nebenbei trockne ich meine schweißnassen Finger unbemerkt an meiner dunklen Jeans ab.
Verdammt. Ich bin geliefert!
Muss mir was einfallen lassen. Dringend.
Nur ich weiß nicht wie ich den Abend überstehen soll. Wirklich nicht! Ich weiß nicht mehr, was mich heute in der Mensa geritten hat Tina zu fragen, ob sie mit mir abends etwas trinken gehen will. Ich habe sie auch nicht richtig gefragt. Da kam nur wildes, unverständliches Sprudeln heraus. Wie ein Fisch, der eine große Blase Luft herausblubbert. Sie hatte noch einmal nachgefragt und beim zweiten Mal habe ich es dann wohl hinbekommen.
Irgendwie.
Ob sie überrascht war, weiß ich nicht. Sie war zwar etwas rot im Gesicht, aber das kann auch an der Sonne gelegen haben, welche durch die großen Panoramafenster der Mensa schien. Tina überlegte kurz und willigte darauf lächelnd ein. Als sie fragte, ob wir das Fogoso Brasil, eine neue südamerikanische Tanzbar in der Stadt, ausprobieren könnten, war plötzlich meine Stimme weg und ich nickte nur. Sie schlug 19:30Uhr als Uhrzeit vor. Das ist die beste Zeit, nickte ich stumm zurück. Egal wann, es ist immer die beste Zeit, wenn du es sagst, plauderte ich gedankenversunken mit mir selbst.
„Toll, dann sehen wir uns später", sprach sie begeistert, drehte sich um und flog davon.
Ich konnte nicht anders als abermals zu nicken. Aber da war sie schon verschwunden.
Das war vor 7 Stunden gewesen. 7 Stunden in denen ich nicht mehr wusste, dass ich von Hörsaal zu Hörsaal pilgerte und kaum kapierte, dass ich heute Abend mit Tina verabredet war. Ich wurde die Stunden bis zur letzten Vorlesung nur von meinem langjährigen Freund Rolf energisch mitgeschleift, der mich auch von dem Fleck in der Mensa loseisen musste. Von dem Fleck, wo Tina gegangen ist. Dem Fleck gekachelten Mensa-Fliesenboden, wo ich sie gefragt habe, ob sie mit mir ausgehen möchte. Heute.
Rolf und ich studieren beide Wirtschaftingenieurwesen. Oft zieht mich Rolf damit auf, dass ich das Studentenleben mal genießen soll. Ich solle nicht bis zur Rente warten, um mal mit einer Frau auszugehen, scherzt er oft und wird nie müde zu betonen, dass es auch noch andere schöne Dinge im Leben gibt außer vergilbte Bücher:
„Timo, alte Filmspule, zu lange gewartet und die besten Plätze sind weg. Statt Loge gibt's nur noch Klappstühle!″, war immer sein Motto. Er arbeitete mal für einen Nebenjob als Techniker im Kino, daher hatte er diesen belebenden Spruch... Rolf. Er muss auch keine große Angst haben! Er hat was Frauen angeht schließlich auch keine Probleme: 1,86m, blond, blaue Augen, ist trainiert und Wasserballer. Er ist der Terence Hill unseres Studienganges. Er muss nur lächeln und die Frauen fallen reihenweise um, wie Dominosteine. Man munkelt, dass er selbst mit der hübschen Junior-Professorin, Frau Ziller, eine Affäre gehabt hatte. Aber das ist Quatsch. Mir sagte Rolf mehrfach zu verschiedenen Anlässen, dass er völlig falsch eingeschätzt würde, dass er ziemlich genug davon habe, dauernd als der Ashton Kutcher des Ingenieurwesens angesehen zu werden. Er sagte in diesen Situationen immer etwas von inneren Werten und wurde dabei ganz ernst. Eine Freundin hatte er trotzdem irgendwie immer, auch wenn es nie wirklich lange hielt.
Dennoch freute sich Rolf mit mir, dass ich Tina gefragt hatte. Auch wenn es keine ganz freie Entscheidung und alleinige Tat von mir gewesen ist. Rolf war es, der mich in der Mensa geschickt zu ihr hinstieß als ich schon wieder entmutigt die Flocke machen wollte, sodass Tina und ich beinahe ineinander liefen. Er wusste, dass ich in sie verknallt war. Seit dem ersten Semester. Er sieht das immer. Er sieht das an dem Blick wie ich sie anschaue, verriet er mir mal. Tina und ich kannten uns von den gemeinsamen Weihnachtsfeiern unserer Fakultäten.
Wobei kannten auch zu viel wäre. Wir sahen uns zwei Jahre da und ich stand beim Bratwurststand letzten Winter zufällig hinter ihr und sie reichte mir den Ketchup. Ich musste dabei meine globigen Winterhandschuhe ausziehen. Meine abgetragenen Handschuhe. Snowboardender Elch mit Sonnenbrille. Peinlicher ging das aufgestickte Motiv gar nicht. Hätte ich mich irgendwo unauffällig verstecken können, ich hätte es gemacht. Ohne zu zögern. Wie auch immer. Während sie mir den Ketchup gab, berührte ich kurzzeitig ihre kleinen, kalten Hände. Ihre Handschuhe hatte sie vergessen.
Ich konnte schwören, dass sie die Ketchuptube extra so hielt, dass wir uns berühren mussten. Ihre kalte, meine warme Hand.  Als ich ihre weiche Haut streifte, ging ein Zittern durch meinen ganzen Körper. Als hätte ich kurz an einen Weidenzaun gefasst.
Wir sprachen anfangs so gut wie gar nicht. Wir lächelten beide zaghaft und ich schaute an ihre vom Glühwein geröteten Wangen vorbei, verstohlen in ihre braunen Augen. Zu Beginn unseres fünf Minuten-Speed-Datings redeten wir über Belangloses. Ich versuchte irgendetwas Lustiges oder Kreatives zu sagen, doch mein Kopf war leer.
Vollkommen leer.
Vakuum!
Alles was ich in der Kälte hätte sagen können, würde ihr nicht gerecht werden und müsste sie unglaublich langweilen. Langsam kam mir das Gefühl ich würde zu gewöhnlich, desinteressiert wirken und hätte verspielt. Verzockt am Bratwurststand! Sozusagen zu früh All-in gegangen. Dann lenkte sie das Gespräch geschickt zur Party und wir unterhielten uns angeregt. Ich hielt mich wirklich ganz passabel. Wacker. Ab und zu kicherte sie. Ich hatte das Gefühl, dass sie -als sie nochmal den Gewürzketchup von mir nahm- viel mehr Ketchup als nötig gewesen wäre auf ihre kleine, braune Bratwurst machte. Sie bekleckerte sich etwas ungeschickt auf zwei ihrer hellen Finger, die ich dann mit einer Serviette, die ich vom Tresen fischte, säuberte. Woher diese galante Eingebung kam, weiß ich nicht. Heute noch nicht. Wahrscheinlich wollte ich mich irgendwo festhalten, um vor so viel Schönheit nicht umzufallen und dabei griff ich unvorhergesehen in den Serviettenspender der studentischen Bratwurstgastronomie. Dann kamen aus heiterem Himmel ihre Freundinnen angeschwärmt und nahmen sie in Beschlag. Wie Aasgeier, die auf ihre Beute herfallen, umschwärmten sie Tina. Sie hauchte im Gehen noch kurz „Danke″ und verschwand im Ring ihrer Freundinnen. Sie verschluckten sie wie ein schwarzes Loch, das Materie und Licht einsaugt.
Plötzlich -ohne Tina- war die Feier ganz dunkel.
Ich schloss kurz die Augen, in der Hoffnung dass beim Öffnen das Licht wieder an sein würde. Aber es blieb dunkel, denn Tina leuchtete woanders.
Einige Momente stand ich noch etwas verloren vorm Bratwurstzelt. Dann bestellte ich gedankenversunken noch eine zweite Bratwurst. Mit Tina in meinem Kopf sinnierte ich über Raum-Zeit-Verformung ausreichend kompakter Massen. Ich nahm meine Wurst entgegen, bezahlte für drei und schlurfte zu meinen Ingenieuren zurück. Mir war kein bisschen kalt. Trotzdem war etwas anders. Ich merkte auf halbem Weg, dass ich keine Handschuhe mehr hatte.
Da erst fiel es mir wieder ein! Meine unzeitgemäßen Fäustlinge hatte ich Tina mitgegeben. Sie fand das Motiv toll.
Snowboardender Elch mit Sonnenbrille.
Der Elch ist nämlich ihr Lieblingstier. Und ich dachte es wäre peinlich! Ich grinste breit in die von Gesprächen geschwängerte Dunkelheit als ich an Tinas glücklichen Gesichtsausdruck zurückdenken musste. Insgeheim dankte ich Gott oder irgendwen da oben für diese zweite geile, gelungene Aktion der partnerschaftlichen Annäherung. Noch halb im Trance erreichte ich dann meine Ingenieure und nagte verträumt an meiner Bratwurst.
Den ganzen Abend lang vertieften wir uns dann in Diskussionen zur Elektrotechnik und fachsimpelten über Maxwell-Gleichungen mit Differentialformen. Soviel zum Thema anderes Geschlecht kennenlernen: Die Nerds im geheimen Zirkel ihrer Nerdigkeit!
Rolf war den Abend über beim Punschzelt aktiv und half beim Glühbierausschank aus -umringt von angeheiterten Psychologie-Studentinnen, die über seine immer wirklich guten Witze lachten. Die Wirtschaftsingenieure feierten jedes Jahr gemeinsam mit den Psychologinnen Weihnachtsfeier. Eine gelungene Leistung der zwei Fachschaftsräte. Das fanden viele. Besonders die Wirtschaftingenieure männlicher Natur. In Insiderkreisen (also die Nerdkreise) wurde es immer nur PB, die Partnerbörse, genannt. Einige nannten es auch nur: die Tankstelle. Denn es gab Glühwein und Alkoholisches bis zum Abwinken. Für viele männliche Ingenieure war es darüber hinaus der einzige Lichtblick im gesamten Studienjahr und auch die einzige Chance eine Frau mal wirklich von Nahen zu begutachten, ohne den Kopf zu verlieren. Auch wenn viele hoffnungslos mit der Situation überfordert schienen so viel geballte Frauenpräsenz überhaupt zu sehen. Bestimmt machten sich die Damen auch darüber lustig und einen Spaß. Oder sie probierten psychologische Kurzzeit-Studien mit uns aus und nutzten uns als Probanden für ihr neurologisches Hexenwerk. Man sagt ja immer, dass Psychologinnen sich selbst therapieren, indem sie andere auf die Couch ziehen. Aber uns war das egal. Wir wollten liebend gern von ihnen therapiert werden.
Wie dem auch sei, sozialer Umgang ist eben für viele von uns schwierig. Da hätte es in unserer Studienordnung mal ein Aufbauseminar oder Vertiefungsmodul dazu geben sollen: 'Baggern und Flirten für sozial introvertierte Intelligenzbolzen der Wirtschaftswissenschaften' würde sicher den Teilnehmerrekord brechen. Im Geheimen -was unsere Realität ist- wartet nämlich jeder von uns darauf, einmal in eine Big-Bang-Theory-Wohngemeinschaft hineinzurutschen. Also die von der US-amerikanischen Fernsehserie mit den Physiknerds. Wie das gehen soll, weiß auch keiner, da wir fast alle noch daheim wohnen. Aber lustig wäre es schon. Wir haben auch einen im Studiengang, der wie Sheldon Cooper ist. Urkomisch. Selbst ich musste oft darüber lachen wie kompatibel diese zwei Typen sind.
Ich gestehe mir aber ein, dass auch ich bei Frauen -wenn es darauf ankommen würde- kläglich scheitern würde. Da mache ich mir kein X vors U. Ich wäre vielleicht noch schlimmer dran als unser WiWi-Sheldon, da ich eine konkrete Vorstellung von Liebe und Frauen besitze, über die ich weiß und die ich auch erfüllt sehen möchte. Auch wenn ich nicht weiß wie das jemals funktionieren soll! Manchmal frage ich mich dann, wem von den Big-Bang-Serientypen ich eher entspreche. Ich bin wohl eine Kombination aus Lennart Hofstadter und Rajesh Koothrappali: auch ich suche eine feste Beziehung zu einer Frau, bekomme aber nur betrunken den Mund auf. Abgesehen davon bin ich weder hochbegabt noch indischer Abstammung. Was aber allen WiWis unserer Fakultät gleich ist: insgeheim wartet jeder von uns auf seine Penny. Außer vielleicht Rolf. Er hatte schon etliche Frauen und eine hieß meiner Meinung nach sogar Penny. Egal. Ich weiß wie meine Penny heißt. Meine Penny heißt Tina.
An diesem Abend der Weihnachtsfeier, nach dem Ketchup-Intermezzo, sah ich Tina jedenfalls nicht noch einmal wieder. Leider. Auch die Tage danach sah ich sie nicht, sodass ich ihr kein schönes Weihnachtsfest wünschen konnte. Ich wollte ihr sogar einen geschnitzten Serviettenhalter in Herzform schenken. Serviettenhalter wegen der Sache mit dem Ketchup. Auch so eine peinliche Sache. Doch daraus wurde nichts. Zum Glück? Zufall? Ach, wer weiß das schon?
Wenn wir uns im neuen Jahr sahen, dann nur kurz und wir waren nie wieder so nah beieinander wie bei der Weihnachtsfeier. Wir sahen uns nur zufällig auf dem Weg zu unterschiedlichen Hörsälen auf dem Campusgelände. Ich fand sie immer. Mein Tina-Blick erspähte sie immer. Er war auf Psychologinnen eingestellt, von denen sie giggelnd umringt war. Sie lächelte zaghaft im Vorbeigehen. Dann lief ich immer etwas zu gerade und wippte mit den Fußballen. Im Nachhinein musste dieses Herumgewippe sehr blöd ausgesehen haben, sodass ich es schnell sein ließ. Das ging mehrere schöne Wochen so. Wir sahen uns an und lächelten. Mehr nicht. Wir sahen uns und lächelten breit.
Einige Wochen später schaute sie -wenn wir uns sahen- nur überrascht auf und lächelte etwas gequält, fast schon entschuldigend. So machte es den Eindruck auf mich. Mehrmals sah ich sie in dieser Zeit auch in Begleitung eines großen Studenten mit kurzen, roten Haaren, der so selbstverständlich den Arm um sie legte, dass es meinem Herzen einen tiefen Stich gab. Wie ein Messer, das fein säuberlich in einen weichen Butterblock schneidet.  
Ich verfiel wieder in alte Muster. Ich stürzte mich Hals über Kopf in Studienkram und wusste, dass ich sie verloren hatte. Dabei hatte ich sie ja nicht einmal! Nachts lag ich lange wach und dachte an sie. Ich dachte auch früh am Morgen an sie, wenn ich nicht mehr schlafen konnte. Vielleicht konnte ich auch wegen Tina nicht mehr schlafen. Doch dachte ich an Tina, dachte ich auch an den rothaarigen Holzkopf. Diesen gelackten Affen, dem ich gerne eine rein gehauen hätte. Nur ich hätte es bestimmt nicht hinbekommen. Dann hätte ich aber auch gleich mir eine mitgeben können, dicht gefolgt von meiner sozialen Inkompetenz, meiner Blindheit.
Tina ist eine klare 1. Und eine 1 kann man nicht... nein, keine Frau kann man nur durch Lächeln und nett Vorbeilaufen für sich gewinnen. Der rothaarige Affe wusste es. Rolf, der alte Frauenversteher, wusste das auch. Nach einem Seminar über Wellenoptik letztes Jahr wurde mir das rückblickend bewusst. Da sagte er mal aus heiterem Himmel und erschreckend ernsthaft: „Liebe ist wie eine Welle: Du musst immer paddeln, um auf ihr surfen zu können. Wenn du dich nur treiben lässt, bricht sie über dich herein oder du verpasst sie." Erst mehrere Minuten nach diesem Spruch mussten vergehen, dass er wieder lachte. Warum Rolf nicht in der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für Praktische Philosophie begleitet, verstand ich nicht. Er hatte absolut recht damit! Ich hatte es verpasst Initiative zu zeigen. Ich habe Tina gehen lassen. Ich habe sie gehen lassen in die Arme dieses Rotschopfs. Dass es da immer einen Zeitplan geben muss, wann man den nächsten Schritt unternehmen soll! Wer sagt einen denn so etwas? Nach dem Ketchup hätte das Date kommen müssen! Alles locker und spontan, aber natürlich gut vorbereitet. Die Konvention der Liebe verlangt es. Ein Date. Ganz klassisch. Ich Spätzünder hatte es vor lauter Tina nicht geschnallt! Ich hätte sie daten müssen. Müssen
Danach tat ich mehr. Also im Rahmen meiner introvertierten Möglichkeiten. Denn ich bin Timo. Und Timo ist immer noch Wirtschaftsingenieur mit nerdiger Veranlagung. Ganz leicht zumindest. Glücklicherweise verbesserte es sich. Maßgebend erst mit heute! O Gott, heute! Wie gesagt auch ein wenig durch Rolf, als er mich zu Tina schubste und ziemlich unschuldig dabei tat. Am 02. April war das. In der Mensa der Uni, deren Fußboden mit vielen grauen Fliesen gekachelt war.
Nun ist immer noch der 02. April. Es ist 20:30Uhr. Unser Date läuft. Im Fogoso Brasil. Tina und ich sitzen uns gegenüber und ich starre meinen gerade grünen Strohhalm an, um nicht Tina anschauen zu müssen, der ich hoffnungslos verfallen bin. Alkohol habe ich eindeutig genug, das weiß ich auch ohne die besorgte Kellnerin. Aber dennoch habe ich eine Blockade. Ich habe mich so sehr darauf vorbereitet überhaupt Tinas Aufmerksamkeit zu erregen, dass ich nun, da ich sie wundersamerweise habe, komplett kopflos bin. Die 7 Stunden vor unserem Date war ich ein Schrotthaufen. Jetzt hier am Tisch in der Bar das Leiden Christi persönlich. Ich hätte Rolf noch fragen sollen, was man beim ersten Date beachten muss und macht.
Ich bin so ein Versager! Ich werde es verspielen. Auf ganzer Linie verzocken. Nichts mit Wellenreiten. Die Welle wird unter mir durchrollen. Ich werde sie verpassen. So wie Rolf es mal bei einem Seminar für Wellenoptik ernüchternd feststellte. Rolf! Rolf! Rolff!!! Ich schmiss fast mein Cocktailglas um. Das ist es! Ich zog gedankenversunken eine Ladung Virgin Caipi vom nun wieder blauen Strohhalm. Ohne Cachaça schmeckte er richtig gut. Richtig gut. Wie Hoffnung. Er schmeckte stark nach Hoffnung.
Rolfs letzte Bemerkung vor meinem Date kam mir nämlich in den Sinn. Zwischen Cocktailglas und Tischkante schwebten seine Worte prophetisch in der süßen Luft von Fogoso Brasil:
„Hör mal zu, du Weichkäse! Du bist Wirtschaftsingenieur! Du hast schon ganz andere Sachen zum Laufen gebracht. Du bist ein Nerd? Und wenn schon! Na und? Wen juckt das! Wenn sie mit dir ausgeht, dann scheint sie sich für dich zu interessieren. Also mach dir mal keine Gedanken. Lass es doch einfach auf dich zukommen. Zeige ihr, dass du dich auch für sie interessierst und kipp dich nicht weg...Oder kipp ihr doch mal Ketchup drüber!"
Als er meinen panischen, totenbleichen Gesichtsausdruck sah, fügte er lachend hinzu: „Man Timo! Soll ich dir ein In-Ear-Headset mitgeben und dir alles zuflüstern? Dann geb ich dir aber auch meine Handynummer durch, die du dann Tina gibst. Okay?", scherzte er. Da wusste ich, dass er mir das ohne Zweifel zutraute und ich nichts zu verlieren hatte außer meiner Schüchternheit.
Es wird nun Zeit von Rajesh Koothrappali zu Lennart Hofstadter zu wechseln. Jetzt kommt der Big Bang! Vorbei mit Theorie! Penny ich komme! Ich überließ den grün-blauen Strohhalm sich selbst und suchte ihre braunen Augen. Tinas braune Augen.
Ich hob entschlossen meinen Blick über den Rand meines Cocktailglases hinaus und versuchte Tina zu fixieren. Ihre Augen waren wie Sterne. In ihnen steckte ein Licht von Wirklichkeit. Sie waren eingefasst von kleinen, warmen Fältchen um ihre Augenwinkel. Wundervoll. Es dauerte etwas, bis sie es mitbekam, dass ich sie anschaute. Sie fuhr gedankenverloren mit dem Finger um den Rand ihres Glases, das noch ganz wenig Erdbeersaft enthielt, bevor sie meinen Blick eher zufällig bemerkte. Als sie überrascht zu mir aufblickte, lächelte sie etwas gequält, fast schon entschuldigend.
Ich kannte diesen Ausdruck.
Ich wusste, dass dies meine letzte Chance war.
Ich begriff plötzlich, dass Tina in diese neue Tanzbar wollte. In diese Tanzbar, in der wir gerade sitzen.
Wir.
Sie wollte in diese neue Tanzbar, weil sie sicher auch interessiert ist hier zu tanzen!
Und das mit mir.
Ich kann nicht tanzen, aber jetzt ist keine Zeit für Ausflüchte. Mir ist egal, ob ich mich blamiere. Wenn ich mit jemanden tanzen will, dann ist es Tina.
Ich ließ sie nicht aus den Augen und sagte ruhig und sicher, so sicher wie ich noch nie etwas von mir gegeben habe: „Tina, möchtest du mit mir tanzen?"

Am nächten Morgen war ich spät dran. Zu spät. Und das auch noch bei Professor Euler. Er gibt Betriebswirtschaft. Der merkt sich das. Ich bin noch nie zu spät gekommen. Meine 4,0 in der nächsten Klausur kann ich wohl vergessen. Einmal zu spät kommen, reicht bei Euler schon. Pünktlichkeit ist eine Tugend und eine Selbstverständlichkeit, wird er nie müde zu betonen und tadelt stets diejenigen, welche den Beginn seiner Lesung versäumen. Der Grund für die Verspätung ist ihm immer egal. Man kann ja eher aufstehen. So seine Devise. Was für ein Idiot! Aber ich schaffte es noch. Gerade so pünktlich, sagte mir ein Blick auf meine Uhr. Kurz vor Beginn der Betriebswirtschaftslehre-Lesung am Eingang zum Hörsaal zog mich ein besorgter Rolf beiseite: „Mensch, Timo! Ich dachte du hast dich umgebracht! Man, wie lief's? Dein Date meine ich. Hat das mit dem Ketchup funktioniert?", scherzte er munter. Ich kam nicht dazu zu antworten, da plötzlich jemand um die Ecke in den Gang zum Hörsaal bog. Zum Hörsaal der Wirtschaftsingenieurwissenschaft. Unser Hörsaal.
Prof. Euler war es nicht. Er kam wohl auch zu spät. Das kann es gar nicht geben!
Ich erkannte sie an ihren schnellen Schritten, bevor ich später ihre blonden Haare und die braunen Augen sah.
Es war Tina.
Da gleißendes Sonnenlicht durch den fensterumsäumten Gang brach, konnte ich ihren Ausdruck nicht deuten. Dann stand sie plötzlich vor mir. Meine Penny. Tina.
O, Gott! Sie stand vor mir und ich grinste blöd. Warum grinse ich immer blöd?
„Hallo Timo. Klasse dich zu sehen. Es war total lustig gestern. Willst du mit mir einen Tanzkurs machen? Ich musste dich das fragen", keuchte sie außer Atem. „Gleich sind die Einschreibungen für die Kurse. Und ich habe doch deine Nummer nicht." Daraufhin steckte sie mir einen Zettel mit ihrer Nummer und ihrem Namen in schön geschwungener Handschrift entgegen, den ich verdutzt nahm. „Es hat mir richtig Spaß gemacht. Du warst großartig, Timo. Tut mir Leid, dass ich dir ein paar Mal auf die Füße getreten bin. Manchmal bin ich ganz schön schusselig", sprach sie verlegen und wurde feuerrot.
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, aber es muss wohl das Richtige gewesen sein.
Tinas Augen lachten hell. Dann küsste sie mich auf den Mund und verschwand elfengleich im Sonnenlicht. Mir war als würde ich den stärksten Weidenzaun der Welt anfassen. Geistesabwesend leckte ich meine Lippen ab und schmeckte Kirsche. Ganz klar Kirsche. Wie Kirschgeschmack und ein Weidenzaun in Beziehung stehen, wusste ich mir nicht zu erklären. Ich war zurück im Fogoso Brasil und mein Herz tanzte freudig. Im Gleichklang mit ihrem.
„Ach wie schön, dass ich nun nicht mehr bis zur Rente warten muss und in Frieden abtreten kann...", kommentierte Rolf von weit her, der sich vor Grinsen kaum einkriegte. Er lag halb auf dem Boden. Erst als er Witze über Timo, den tierisch-tollen Tanzbären, machte, holte er mich zurück in die Gegenwart. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Als Euler plötzlich zügig und schwitzend den Gang entlangkam, seine Aktentasche baumelte gefährlich im Takt seiner schnellen Schritte, zog Rolf mich Paralysierten feixend und auf die Schulter klopfend in den Hörsaal. Als wir zwei uns auf unsere angestammten Plätze in der vorletzten Reihe schlichen, entschuldigte sich Euler bereits demütig und flehentlich bei seinen Studenten, die das Schauspiel zu genießen schienen und ihn mit finsterer Miene anschauten. Sie machten es ihm nicht leicht. Sie dachten nicht daran.
Ehrlich gesagt, bekam ich davon aber nicht viel mit. Das Einzige, was ich wirklich zum ersten Mal mitbekam, war, wie schön doch dieser Hörsaal war.
Die alten, bekritzelten Nussbaumtische. So braun wie Tinas Augen.
Die sonnenbeschiene beige Wand. Genau die Farbe ihrer Haare.
Dieser Hörsaal ist schön!
Er hat mein Herz gestohlen.
Ich umklammerte fest den Zettel.
Den Zettel mit Tinas Nummer und ihrem Namen in schön geschwungener Handschrift.

In der Luft lag ganz viel Möglichkeit.