Montag, 19. September 2016

Aus dem Leben eines arbeitslosen Zugfahrers. Vol 1

So könnte der Titel eines spannenden Thrillers lauten. Ist es aber nicht. Nackte Realität passt da eher. Was meint ihr? Es ist 02:10Uhr und Kinder gehören um diese Zeit ins Bett. Keine persönliche Meinung, sondern landläufiger Usus. Aber ganz anders in westfälischen Zügen, aber lest höchstselbst. Eine etwas längere fiktive Erzählung mit ganz viel Herz:

Es ist spät. Ich richte mich hart in Reihe 13, auf Sitz Nr. 66 der DB ein. Da haben sie wohl noch eine Sechs vergessen, versichere ich mir. Das Bild eines Pentagramms, das ich mir für solche Anlässe noch kaufen muss, blitzt kurz auf meiner Netzhaut auf. Nach diesem gerafft geistigen Erwachen vernebelt auch schon die Erschöpfung meine Glieder und ich schmiege mich ahnungslos in den unnachgiebigen Sitz des IC Nummer..Schlafenszeit. 25min Pause, Rodeo im Traumzauberland vor Augen, Power-Nap mit dem Handy abgestimmt und ab geht...nicht mehr viel, was Ruhe nahe kommt! Denn als ich ein letztes Mal einen Blick über den verwaisten, von Schnarchern umsäumten Abteilgang schweifen lasse, sehe ich sie: die grünen Augen eines kleinen Mädchens. Die Augen des Teufels, denke ich verschmitzt und grinse lausbübisch in mich hinein. Sie ist geschätzt um die fünf Jahre und hat einen Ausdruck aufgesetzt, der mir unmissverständlich und in Sekundenbruchteilen klar macht, dass dies eine Höllenfahrt für mich werden wird und an Schlaf nicht zu denken ist. Auch Jesus muss dran glauben, durchfährt es mich eiskalt.
„Wie heißt du?", geht es locker flockig los und ich muss mich unmissverständlich an mein verjährtes Blinddate mit Tina91 erinnern, was es nicht besser macht, denn es ging nicht gut aus.
Nach kurzer Überlegung verrate ich dem Kind meinen Namen und versuche wenig interessiert an der Unterhaltung lächelnd von ihr die Erlaubnis für meine sehr nötige Augenpflege zu erhalten, aber weit gefehlt.
„THOOOOMAS? Wie die Lokomotive?" Jetzt kommt es, denke ich. Hätte mir doch länger Bedenkzeit einräumen sollen und mich einfach Minos, der Höllenrichter unartiger Frechdachse, nennen sollen. Warum nicht gleich: 'THOMY hier kommt der Genuss' oder 'Noch paar Gummibärchen gefällig?' gottschalkt es durch meinen Kopf. Mein Gehirn insistiert vehement dass es Schlaf benötigt und klopft rhythmisch an die Stirn: Bum Bum Bubum.
„Wie die tuuut tuuut Lokomotive?" Okay, sag etwas, ganz kurz und freundlich: „Ja", presse ich zwischen meinen Lippen hervor. Eine trügerische Ruhe folgt meiner ausführlichen Antwort. Nun werde ich es wohl geschafft haben. Ich möchte sie jetzt nicht nach ihrem Namen fragen, denn nachts in Deutschlands Zügen wird einem schnell mal unrechtmäßig das pädophile Identitätsnetz übergeworfen, wenn man mit Kindern spricht. Irgendein Pseudo-Schlafender hat bestimmt schon seinen Pfefferspray auf Anschlag und den Daumen auf der Kurzwahltaste der 110. Unbehaglichkeit mischt sich in meinen nicht existierenden Schlummer. Meine viel zu lebendige Müdigkeit jodelt fröhlich.
„Ist das dein Skateboard da oben?" Ihr Finger zeigt auf das Objekt in der leicht schaukelnden Gepäckablage über mir. Ich würde liebend gerne Ja sagen, denn Skaten ist wirklich etwas, das ich auch gut können würde. Ich spüre plötzlich das ernsthafte Interesse dieses kleinen Wesens, das versucht diese für sie unendlich lang anmutende und langweilige Zugfahrt zu überstehen und sich rein zufällig mich als Opfer ausgesucht hat. So fege ich meine Reserviertheit und Sorgen beiseite. 
„Hallooooo tuuut tuuut, ist das dein Skateboard?", klingelt es erneut in meinen Ohren. „Nein, das gehört dem Mann mir gegenüber." Er sieht eigentlich eher wie ein milchbärtiger Metalhead aus, aber abgewetzte Chucks, kurze Jeans und Schrammen am Knie stützen fürs Erste meine Vermutung, dass er sich irgendwann mal den Halswirbel brechen wird. Daneben schläft steif (s?)eine Oma. Ihr Brett mit einer etruskischen Pommesgabel als Deck wird es wohl nicht sein, gestehe ich mir ein. 
„Du siehst aber viel viel mehr wie ein Skateboardfahrer aus!", besteht sie und mustert mich aufgeregt und eindringlich. 5min geht das so. Jetzt weiß ich wie man sich fühlt, wenn einen Dumbledore durch seine Halbmondbrille röntgt. Danke Kind, der Skateboardfahrer in spe möchte dir sagen, dass er...
"Du siehst aber viel viel älter aus als er. Schon richtig alt. Bist du 35?", feuert sie weiter. Danke. Zu viel des Lobes! Da ging wohl deine Fantasie mit dir durch. Der grunzende Metaller mir gegenüber ist maximal 19 und ...
„Fährst du auch nach Frankfurt?", plaudert sie munter drauflos. „Nein, ich fahre nach.."
„Ich hab dich nämlich schonmal in Frankfurt gesehen", unterbricht sie mich. „Weißt du? Aufm Skateboard. Das warst du." Ich möchte gerade ausholen, dass ich erst einmal in Frankfurt gewesen bin und über keinerlei nennenswerte Skateboardskills verfüge, da beginnt plötzlich das dialogisch angedachte Gespräch sehr an Einseitigkeit zu gewinnen. Das Mädchen zeigt sich in monologischer Höchstform. Ping Pong mit sich selbst wäre ihre olympische Disziplin, aber das brauche ich mir ja nicht extra einzureden. Das Verhör geht weiter zu Stufe 2: „Warum bist du so dünn?", bemerkt sie. Zack boom! 'Kinder an die Macht' grönemeyert es durch die Jukebox meines Lebens. Kinder sind so herzlich ehrlich. (Der Spruch eines ehemaligen Klassenkameraden 'Ich liebe Kinder, schaffe nur nicht ein Ganzes', kommt mir schlagartig in den Sinn.) „Na, damit ich so viele Eiskugeln wie ich möchte auf einmal essen kann", entgegne ich gelassen. Ich beglückwünsche mich insgeheim für diese eiscoole Antwort und wiege mich im triumphierenden Gefühl der Ruhe. Aber sie währt nicht lange: 
„Warum hast du so dicke Haare?" Ich bin kurz davor und nah dran etwas aus Grimms Märchenkatalog zu erwidern, so etwas hübsch Wölfisches, 'dass ich dich besser fressen kann' oder so....entscheide mich aber dagegen. Stattdessen suche ich die Flucht nach vorn, möchte geschickt ihre Waffen gegen sie einsetzen (das kleine neugierige Biest!) und entgegne: 
"Du hast doch auch einen Zopf. Deine Haare sind doch viel länger als meine, oder?"
"Tja weißt du. Ich bin ja auch ein Määääädchen!", platzt sie trocken hervor, streckt kurz ihre erdbeerrote Zunge heraus und untermalt diese Erkenntnis, indem sie mir ihre meterlangen Haare zeigt und einzelne Strähnen in den Fingern zu Locken dreht. 
Leise fluche ich in mich hinein und sinniere über diese beispiellose Form der Laissez-faire-Erziehung und suche vergeblich Vergleiche zum Ideal des Weisen im Daoismus. Und überhaupt, wo sind eigentlich ihre Eltern? Ich spähe unauffällig den menschenleeren Flur entlang nach diesen diesen...Rabeneltern! Allmählich regt sich die Nachbarschaft aus ihrem unruhigen Schlaf aus 1001 Nacht. Einige beginnen mit geblinzelten Augen dieses offensichtlich interessante Gespräch zu verfolgen, andere lachen leise in ihren Kissenersatz aus zusammengerollten Pullovern. Wie lange lauschen sie schon gebannt? 10, 15, 20 Minuten? Ich genieße diese Situation...sichtlich. 
„Kommst du morgen auch nach Frankfurt? Da guck ich dir beim Skateboardfahren zu." Ich gebs auf!!! Dem Kind ist nicht zu helfen. 'Lass sie nur machen..laissez-faire', summt es still und einstimmig im Zug. „Kann leider nicht, muss arbeiten", gestehe ich ihr -und mir selbst- ein. Scheiße, morgen ist doch Sonntag, denke ich. Oder doch Montag? Mein Zeitgefühl leidet sichtlich unter der Arbeitslosigkeit. Da knackt der Lautsprecher und eine Stimme aus dem Off krakeelt liebevoll ruhrpöttisch meinen Zielbahnhof. Gänzlich ausgeruht und dazu bestens unterhalten schält sich meine körperliche Hülle aus dem Exerzierplatz. Ich verabschiede mich artig von dem namenlosen Mädchen mit den grünen Augen; sie allerdings bleibt still. Das verwundert mich. Nach der ersten Irritation stolpere ich weiter und komme der Pforte der Freiheit näher. 
Kurz bevor der Zug mit einem finalen Ruck zum Stehen kommt, blicke ich den Gang zurück. Da lugt die kleine Frechmarie (so habe ich sie getauft) über ihre Lehne und flötet verschmitzt: "Hey, weißt du was? Ich mag dich alter Skatermann." Sie lacht schelmisch und verschwindet leise tutend im Sitz. Etwas perplex entlässt mich die offene Tür in die angenehme Kühle der Nachtluft, welche mich wieder mit frischen Gedanken umspült: „Der glückliche Junge, der später mal mit ihr eine Limonade trinken geht...″, murmle ich in meinen Bart. Der kann sich schon einmal freuen und sollte sie dann unbedingt mit einem Longboard heimfahren, ergänze ich gedanklich. Grinsend und überwältigt von so viel Moment schreite ich dem erwachenden Morgen entgegen. 
Es ist nicht zu spät.